Zeugen zufolge gab es am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl kurz hintereinander zwei Explosionen. Von denen war die erste - der gängigen Theorie zufolge - eine Dampfexplosion. Sie zerriß den Reaktor und das Gebäudedach. Auf sie folgte dann die zweite, die wesentlich stärkere Wasserstoffexplosion.
"Es hat viele Theorien gegeben, aber wir hatten keine Beweise dafür, und es gab Befunde, die nicht zur gängigen Theorie passten. Etwa die Messung von besonderen Xenon-Isotopen, von der ich 2008 auf einer Konferenz gehört habe."
Diese Messungen stammt aus Tscherepowez - einer Stadt, rund 1.000 Kilometer nördlich von Tschernobyl. Das Xenon tauchte dort drei Tage nach Beginn der Katastrophe auf, erzählt Lars Erik de Geer. In seiner aktiven Zeit war der Pensionär nuklearer Forensiker am Schwedischen Institut für Verteidigungsforschung. Tscherepowez liegt jedoch weit außerhalb der "Wolke", in der sich die Masse der Radionuklide nach Westen ausbreitete:
"Der Isotopenfingerabdruck des Xenons von Tscherepowez legt außerdem nahe, dass es gerade erst bei einer Kernspaltung entstanden war. Es kann kein Xenon-Gas sein, wie es sich beim normalen Reaktorbetrieb bildet. Wir vermuten nach der Analyse der Daten, dass das Xenon von Tscherepowez von einer Art nuklearer Explosion stammt."
Ein blauer Blitz aus dem Reaktor
Wenn es bei der Reaktorhavarie von Tschernobyl eine Nuklearexplosion gegeben habe, dann sei sie nicht vergleichbar mit der Detonation einer Atombombe, stellt Lars Erik de Geer klar. Denn Bomben setzen ihre Energie in Millionstel Sekunden frei. Die Explosion in Reaktor 4 dürfte eher Tausendstel Sekunden gedauert haben oder sogar Sekunden:
"Wenn Sie sich vorstellen, wie dieser Reaktortyp von Tschernobyl aussieht: Er besteht ja im Grunde aus vielen Röhren, die allesamt nach oben mehr oder weniger offen sind. Wenn es in diesen Röhren zu einer Nuklearexplosion kommt, schießt ein Plasmastrahl heraus. Und dieser Plasmastrahl trug das dabei produzierte Xenon mehr als drei Kilometer hoch in die Atmosphäre hinauf."
Dazu passt die Erzählung eines Fischers, der gesehen hat, wie ein blauer Blitz aus dem Reaktor fuhr. Das Team um De Geer vermutet, dass es in etlichen Röhren im Reaktorkern zu einer Serie von Nuklearexplosionen gekommen ist. Die zerrissen den Reaktor und schossen radioaktives Material und Schutt in die hohe Atmosphäre. Den Wetterdaten zufolge trieben die dort oben herrschenden Winde diesen Teil der Radionuklide über Finnland nach Tscherepowez. Drei Sekunden später zerstörte eine Dampfexplosion die Reaktorhülle endgültig und schoss Unmassen an Radionukliden und Schutt in niedrigere Luftschichten. Die wurden dort dann von Winden gepackt, die sie nach Westen verteilten.
"Ich habe inzwischen weitere Beweise gefunden, die unsere Hypothese stützen. So erklärt das Plasma einer Nuklearexplosion, dass ein Teil des zwei Meter dicken Reaktorbodens vollständig verdampfen konnte. "
Auswirkungen für die Sicherheit
Denn der Plasmastrahl schoß in den betroffenen Röhren nicht nur nach oben heraus, sondern auch nach unten weg.
"Lars Erik de Geer hat sein ganzes Berufsleben damit verbracht, die Spuren von heimlichen und offenen Nuklearwaffentests zu analysieren. Er kennt die Werkzeuge, die er für die Auswertung der ihm nun zugänglichen Daten eingesetzt hat, ganz genau", urteilt Lars Högberg, der jahrelang Direktor der schwedischen Strahlensicherheitsbehörde war. Die Hypothese seines Kollegen über die ersten Sekunden des Unfalls findet er spannend:
"Sie verändert nicht das Gesamtbild des Unfalls. Doch nun sollten Experten für Reaktorphysik berechnen, ob tatsächlich in einem begrenzten Teil eines Reaktorkerns so viel Energie freigesetzt werden kann - falls sie genügend Daten für die Berechnungen haben."
Für die Reaktorsicherheit ergäben sich jedoch wahrscheinlich keine neuen Erkenntnisse. Dem stimmt auch Lars Erik De Geer zu. Er freut sich darüber, das Rätsel mit dem Xenon in Tscherepowez gelöst zu haben - und hofft, dass nun über den Ablauf der ersten Sekunden ein Konsens erreicht wird.