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Tschernobyl-Opfer
Werden Strahlungsschäden vererbt?

Am *26. April 1986 explodierte Block 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Er brannte tagelang und setzte dabei gewaltige Mengen an Radioaktivität frei. Das traf die Menschen, die damals nach der Katastrophe aufgeräumt haben. Haben sie die dabei erlittenen Strahlenschäden an ihre Kinder weitergegeben?

Von Dagmar Röhrlich |
Dekontaminierungsarbeiten in der Zone um das Atomkraftwerk Tschernobyl (Foto von 1990)
Die "Liquidatoren" waren in Tschernobyl je nach Zeitpunkt und Art ihrer Tätigkeit verschieden hohen Strahlen-Dosen ausgesetzt (IMAGO / epd)
Die Frage wird seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki diskutiert: Sind Strahlenschäden vererbbar? Bei den Kindern und Kindeskindern der Überlebenden zeigte sich bislang keine Zunahme von Erbkrankheiten. Doch es gibt auch andere Ergebnisse. In Mäuseversuchen traten über Generationen hinweg genetische Veränderungen auf. Und auch einzelne, kleinere Studien am Genom von Kindern, deren Eltern der Strahlung von Tschernobyl ausgesetzt gewesen waren, ergaben Hinweise auf vererbbare Mutationen. Allerdings schienen diese Mutationen keine gesundheitlichen Folgen zu haben.

Studie an "Liquidatoren" und deren Kindern

Um der Sache auf den Grund zu gehen, haben Forscher des US National Cancer Institutes zusammen mit ihren ukrainischen Kollegen eine größere Gruppe von Tschernobyl-Liquidatoren und ihren Kindern untersucht.
"In unserer Studie haben wir Menschen untersucht, die geheiratet und zwischen 1987 und 2002 Kinder bekommen haben. Dabei haben wir uns auf die Untergruppe konzentriert, von der wir die Strahlenbelastung recht genau kennen. Die war unterschiedlich stark und betraf entweder Mutter oder Vater oder beide." In die Studie aufgenommen wurden 130 Kinder und ihre Eltern, erläutert Stephen Chanock vom US National Cancer Institute:
"Mit ihrem Einverständnis haben wir den Personen Blut abgenommen und ihnen eine Reihe von Fragen zu ihrer Gesundheit gestellt: Ob sie rauchen, nach chronischen Krankheiten, Krebs und ähnliche Fragen. Dann haben wir das Blut analysiert, daraus das gesamte Genom sequenziert, alle 3,1 Milliarden Basenpaare – und zwar zwei- bis dreimal genauer als bei einer als bei einer normalen Studie. Wir wollten sicher sein, dass wir nichts übersehen."

Suche nach Mutationen im Erbgut

Die Mutationen, die die Forscher suchen, sind extrem selten und schwierig zu finden. Es geht um Genveränderungen in den Hoden und Eierstöcken, beziehungsweise den Spermien und Eizellen der Eltern, und die an die Kinder vererbt wurden. Eigentlich sind solche Neumutationen ganz normal. Jeder bekommt zwischen 50 und 100 von ihnen mit auf den Weg. Doch wenn die Strahlung vererbbare Schäden hervorruft, sollten die Forscher mehr dieser Neumutationen im Genom der Kinder finden. Haben sie aber nicht, so Stephen Chanock:
"Unsere Ergebnisse zeigen: Es macht keinen Unterschied, ob Mutter oder Vater oder beide einer hohen, niedrigen oder gar keiner Strahlendosis ausgesetzt gewesen sind. Mit anderen Worten: Wir sehen bei Anzahl und Art der Neumutationen keinen Effekt einer erhöhten Strahlung. Die Veränderungen in den Genen der Kinder sehen nicht anders aus als bei Hunderten anderer Individuen aus der ganzen Welt, die keiner Strahlenbelastung ausgesetzt waren."
Ein sowjetischer Techniker untersucht die kleine Katya Litvinova auf Radioaktivität. Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl werden die Menschen am 9. Mai 1986 auch in dem Dorf Kopylovo nahe Kiew untersucht. 
Die Sorge über mögliche Gesundheitsschäden nach der Tschernobyl-Katastrophe belastete die Menschen in ganz Europa (AP/Boris Yurchenko)

Offenbar keine Erbgutveränderung bei moderater Strahlendosis

Als größter Einflussfaktor bei den Neumutationen erwies sich in dieser Studie – wie auch schon in anderen Untersuchungen zuvor – das Alter des Vaters.
"Unsere Ergebnisse sind, denke ich, besonders wichtig für Menschen, die exponiert wurden oder bei einem zukünftigen Atomunfall exponiert werden könnten. In Fukushima wurde nur ein Zehntel der Strahlung von Tschernobyl freigesetzt. Unserer Meinung nach sollte das also darauf hindeuten, dass das Risiko für Probleme in den nächsten Generationen wirklich sehr, sehr gering ist."
Allerdings machen die Forscher eine Einschränkung: In die Untersuchungen wurde niemand einbezogen, der so hohe Strahlendosen erhalten hat, dass er ins Krankenhaus musste für eine Knochenmarktransplantation oder einen anderen akuten Eingriff. Sondern es ging um geringe oder moderate Belastungen über einen längeren Zeitraum hinweg, die sich aufsummiert haben. Und so hoffen die Forscher, demnächst eine ähnlich ausgefeilte Studie in Hiroshima und Nagasaki durchführen zu können. Denn dort war die Belastung ganz anders: nämlich sehr kurzzeitig und sehr stark.
* Anmerkung der Redaktion: Im Teaser des Beitrags wurde ein Datum korrigiert.