Sebastian Pflugbeil war am 26. April 1986 an der Ostsee: Es war ein Wochenende, mit Frau und vier Kindern wollte der heutige Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz ein paar Tage am Strand ausspannen.
"Ich habe dann von den Schweden erfahren, die das als Erste bemerkt hatten, dass irgendwas in der Luft rumschwirrt. Über die westdeutschen Nachrichtensender kam das. Die erste offizielle Nachricht kam in den DDR-Fernsehnachrichten am Montagabend in der Aktuellen Kamera."
"Im Zusammenhang mit Anfragen teilte das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz mit, dass in der DDR ständig Messungen zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt erfolgen. Nach der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können."
Manfred Haferburg arbeitete vor 30 Jahren als Kernenergetiker in der Slowakei und erfuhr im Deutschlandfunk von der Katastrophe.
"Wir merkten das dann auch, dass die Ins-Kraftwerk-Ankommenden, die von zu Hause ins Kraftwerk mit dem Fahrrad geradelt waren, die extrem empfindlichen Eingangsmonitore zum Klingeln brachten. Die hatten sich so ein bisschen Radioaktivität in die Jacke geladen vom Fallout und brachten die empfindlichen Monitore zum Ansprechen. Dann ergab sich das, dass wir verstanden haben, dass also ein schwerer Reaktorunfall passiert war."
Der GAU wurde heruntergespielt
Haferburg war vom Fach, er hatte im AKW Greifswald als Schichtleiter gearbeitet. In den kommenden Tagen musste er zähneknirschend mitansehen und – hören, wie die Medien der DDR den GAU systematisch herunter spielten.
"Wie der Ministerrat der UdSSR heute informierte, sind dringende Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie eingeleitet worden. Die Strahlungssituation im Kraftwerk und seiner Umgebung ist stabilisiert worden."
"Die Informationspolitik war zu dieser Zeit schon fragwürdig, von beiden Seiten. Im Osten gab es eine katastrophale Verharmlosung und das verunsicherte die Leute, weil ja jeder wusste, dass hier verharmlost und zurückgehalten wird, weil ja der Große Bruder keine Havarien hat und keine Größten Anzunehmenden Unfälle mit seinen Reaktoren. Und die andere Seite war, dass im Westen die Westmedien von einer Horrormeldung in die andere stolperten und Angst verbreiteten und auch Angst machen. So. Und dazwischen irgendwie lag die Wahrheit."
Kernphysiker der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin traten im DDR-Fernsehen auf, erklärten den Reaktortyp von Tschernobyl für "im Prinzip sicher" und äußerten "absolutes Unverständnis" dafür, ….
DDR-Rundfunk, Günter Flach, damals Direktor des Zentralen Instituts für Kernforschung:
"… wie man solch eine technische Situation, so möchte ich das einmal bezeichnen, zu einer derartigen Kampagne nutzen kann, um die friedliche Nutzung der Kernenergie in der UdSSR zu verteufeln."
"Natürlich hat die Staatssicherheit jegliche Äußerung von Fachleuten über Tschernobyl unterdrückt, und zwar drakonisch. Wer es gewagt hat, da den Mund aufzumachen, der lebte gefährlich zu dieser Zeit."
Die Wut über die Lügen über Tschernobyl gab Umweltgruppen Auftrieb
Sebastian Pflugbeil war damals in der medizinischen Forschung tätig, in den Jahren nach Tschernobyl gründete er das Neue Forum mit und war als Minister der Volkskammer in der Regierung de Maiziére für die Abschaltung der DDR-Atommeiler verantwortlich.
"Dass man in einer Diktatur so tanzt, wie der Diktator das gerne hat – gut. Aber dass wichtige Wissenschaftler in der Bundesrepublik auf eine ganz ähnliche Weise die Sache verharmlost haben, das nehme ich ihnen übel. Die hätten das nicht müssen. Mir kann keiner erzählen, dass sie es nicht besser verstanden haben. Das empfinde ich immer noch als gravierenderen Fehlgriff als das, was die Leute in der DDR getrieben haben."
Die Wut über die Lügen über Tschernobyl gab damals zum Schrecken der Stasi den Umweltgruppen in der DDR Auftrieb. Den Kerntechniker Manfred Haferburg trieben sie in den politischen Widerstand:
"Diese Desinformation, die die DDR-Medien verbreiteten, das hat mich richtig krank gemacht, dahin gebracht, wo ich letzten Endes gelandet bin, nämlich nach Hohenschönhausen. Ich habe das nicht ausgehalten."
In dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen landete Haferburg im Mai 1989 nach einem Fluchtversuch in den Westen. Heute lebt er in Paris und berät Kernkraftwerke in Sicherheitsfragen,: Sein Ziel: Eine Katastrophe wie die von Tschernobyl möglichst zu verhindern.