Eine Hochhaussiedlung im Norden Berlins. Achmed Dokudajew hat Besuch von seiner Schwiegertochter und den drei Enkeln. Sie verabschieden sich gerade.
"Wir wollten gerade gehen, damit wir nicht so viel stören."
Der Jüngste sitzt schon in der Kinderkarre, die beiden Mädchen sind bereits angezogen. Der Großvater sitzt im Wohnzimmer und schaut ihnen hinterher. Die Sofas sind mit Stickdecken geschützt, ein Gebetsteppich ist aufgerollt, in den Ecken stehen Kunstblumen. Es ist warm, doch Dokudajew trägt eine Lammfellmütze, den traditionellen Kopfschmuck tschetschenischer Männer. Seine Enkel sieht er jeden Tag.
"Ich kann nicht ohne sie. Wenn sie mal nicht zu mir kommen, gehe ich zu ihnen."
In Tschetschenien politisch verfolgt
Achmed Dokudajew ist 72 Jahre alt, er kam vor elf Jahren mit seiner Frau und drei Söhnen nach Berlin, floh vor politischer Verfolgung. In Tschetschenien hatte er sich für die Unabhängigkeit von Russland engagiert.
"Ein Tschetschene muss Sitten und Bräuche respektieren. Die Älteren zu ehren, gehört dazu. Er muss sie versorgen, wenn sie das selbst nicht mehr können."
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Abgeschieden in Europa – Tschetschenen unter sich" in der Sendung "Gesichter Europas".
In Tschetschenien gibt es viele solcher Regeln.
"Adaty, da …"
Das sogenannte Adat-Recht, eine Art Gewohnheitsrecht, wird seit Jahrhunderten mündlich überliefert. Auch die Blutrache zählt dazu. Und die Bevormundung der Frau.
"Der Vater ist bei uns alles. Mit der Mutter kann man diskutieren, die Mutter ist die Mutter. Aber wenn der Vater etwas sagt, dann darfst du in keinem Fall widersprechen. Sein Wort ist Gesetz."
Sein ältester Sohn steht zurückhaltend in der Ecke, hört mit leicht gesenktem Blick zu. Er setzt sich nicht, solange sein Vater es ihm nicht bedeutet, es sei "nicht üblich", erläutert er später. Selimchan Dokudajew ist 28 Jahre alt und arbeitet in einer Baufirma. Er ist der Vater der drei Kinder.
"Ja, also, in tschetschenische Familie: verantwortlich der Vater. Der Vater muss kümmern, dass die Familie Essen hat, dass Familie ein Dach hat, Haus hat wie andere normale Familie, alles Fernseher hat, alles haben. Und auch liegt große Verantwortung auf dem Vater, deswegen der erste Wort in der Familie – der Mann."
Europäische Lebensart nicht nach außen kehren
Nicht alle Tschetschenen leben nach diesen Regeln. Es gibt Familien, in denen die Frauen kurze Röcke tragen, in denen Alkohol getrunken wird, in denen Männer und Frauen selbstverständlich an einem Tisch sitzen und gleichberechtigt miteinander diskutieren. Aber weil Tschetschenien klein ist, weil jeder jeden über wenige Ecken kennt und der Gruppendruck groß ist, sind diese Familien darum bemüht, ihre europäische Lebensart nicht nach außen zu kehren, nicht einmal im Westen. Sie fürchten, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden.
Vater und Sohn Dokudajew meinen, wenn die tschetschenischen Traditionen besser eingehalten würden, gäbe es weniger Probleme mit tschetschenischer Kriminalität, auch in Deutschland. Achmed Dokudajew hat deshalb mit Gleichgesinnten in Frankreich, Norwegen und vielen anderen Ländern einen europäischen Ältestenrat gegründet. Die Männer treffen sich einmal im Monat zu einer Skype-Konferenz und besprechen aktuelle Probleme.
"Wir sind in der Fremde. Unsere wichtigste Aufgabe ist, den jungen Leuten zu sagen: Verstoßt nicht gegen die hiesigen Gesetze. Auf keinen Fall."
Ältesten sollen Konflikte lösen - auch in Europa
In Tschetschenien werden die Alten gerufen, um bei Konflikten zu schlichten. Auch das setzt sich in der Diaspora fort. Selimchan Dokudajew begleitet seinen Vater dabei. Er erzählt von einer Tschetschenin aus Brandenburg, die von einem tschetschenischen Mann belästigt wurde: Mit obszönen E-Mails, per SMS, mit nächtlichen Anrufen. Statt zur Polizei zu gehen, beklagte sich die Frau bei ihrem Bruder.
"Und der Bruder hat zu dem Mann gegangen in einem Wohnheim mit seinen Cousins."
Gemeinsam verprügelten sie den mutmaßlichen Stalker. Der ging daraufhin zur Polizei, erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Daraufhin wandte sich die Frau an die Männer vom Ältestenrat. Die machten den Mann ausfindig.
"Und dann haben wir gesagt: Guck mal, du hast Anzeige gemacht, und die Familie haben jetzt Probleme und viele Kosten, Anwalt und so weiter. Ist nicht gut, als eine tschetschenische Community so eine Streit rausgehen und an Amtsgericht, und vielleicht kommt das an Zeitung, wir haben sowieso hier schlechten Ruf, und dann ihr macht, dass dieser Ruf noch weiter."
Der Mann zog die Anzeige zurück.
Festhalten an tschetschenische Sitten und Traditonen
"Möchten Sie grünen Tee oder schwarzen Tee?"
Während Selimchan erzählt, deckt seine Schwägerin den Tisch.
Salina ist 21 Jahre, trägt ein Tuch im Haar, wie es in Tschetschenien üblich ist, und ein langes Hauskleid. Die Ärmel reichen bis über die Ellenbogen. Salina kam mit sieben Jahren nach Berlin. Sie ist die Frau des jüngeren Bruders.
"Bei uns ist es unhöflich, den Namen des Mannes zu sagen, deswegen lass ich das lieber."
Achmed Dokudajew setzt sich an den gedeckten Tisch.
Achmed Dokudajew setzt sich an den gedeckten Tisch.
"Über unsere Sitten und Traditionen kann man sehr lange reden. Manche mögen sie für wild halten, aber ich halte sie für menschlich. Ein echter Mensch muss sich danach richten."