Der Name des Protagonisten ist der Redaktion bekannt, wurde aber geändert, um die Anonymität zu wahren.
"So. Hallo, ich heiße euch alle herzlich willkommen heute zu unserem Solidaritäts- und Trauermarsch für die verfolgten Opfer in Tschetschenien. In Tschetschenien geht es weiterhin voran, dass Homosexuelle gefoltert, verhaftet, verfolgt und ermordet werden."
Ein Sonntag in Berlin-Mitte. Vor dem Auswärtigen Amt haben sich rund 20 Personen versammelt. Einer schwenkt eine Regenbogenfahne, einer eine Fahne mit der Aufschrift "Stopp Homophobie". Einige halten Kerzen in den Händen.
"Danke, dass ihr alle hier seid und mit uns gemeinsam diesen Weg geht."
Langsam setzt sich die Gruppe in Bewegung, in Richtung Russische Botschaft. Mehrere Aktionsgruppen und Bündnisse gegen Homophobie haben zu dem Marsch aufgerufen. In ganz Europa finden an diesem Tag Solidaritätsaktionen statt. Die Demonstranten in Berlin sprechen deutsch, englisch, russisch. Doch es ist kein einziger Tschetschene unter ihnen: Kein homosexueller, kein heterosexueller, der Solidarität zeigen möchte. Süleyman wundert das nicht.
Leben in der Anonymität
"Man muss sich ja klar machen, dass fast alle Tschetschenen hier in Europa, obwohl sie in liberalen Ländern leben, homophob geblieben sind."
Süleymans Wohnort muss geheim bleiben. Nur so viel: Er kommt aus Tschetschenien, ist schwul und lebt in einer europäischen Großstadt.
"Wenn meine Anonymität aus irgendeinem Grund aufgehoben und über mich in den sozialen Netzwerken geschrieben würde, wären die Folgen absehbar. Die Machthaber würden versuchen, mich zu finden, würden mich zwingen, nach Tschetschenien zurückzukehren, und dort hätten sie unbeschränkte Möglichkeiten, mit mir zu tun, was immer sie wollen."
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Abgeschieden in Europa – Tschetschenen unter sich" in der Sendung "Gesichter Europas".
An seinem Wohnort hält er sich von anderen Tschetschenen fern. Nicht mal seine engsten Verwandten wissen, dass er homosexuell ist.
"In der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, wurde über Homosexuelle nur schlecht gesprochen, sie gelten als unmoralisch und abnorm. Da verstehst du von selbst, dass du sehr vorsichtig mit dem Thema sein musst, wenn du nicht ausgestoßen und von allen gehasst werden willst."
Süleyman fand erst in Westeuropa den Mut, sich mit Männern zu treffen. Hier begann er auch, kritisch über die Traditionen nachzudenken, die den Tschetschenen von klein auf vermittelt werden.
"Von meiner tschetschenischen Identität habe ich mir mit Sicherheit die Treue zur Familie bewahrt. Wir werden dazu erzogen, für unsere Familienmitglieder und für Freunde einzutreten. Das sitzt fest in mir, wo auch immer ich lebe. Aber andere Dinge habe ich neu bewertet. Vor allem das Verhältnis zur Frau. Es ist, scheint mir, eines der schlechtesten auf der Welt. Frauen werden oft Eigentum der Männer betrachtet. Wenn nicht des Ehemanns, dann des Vaters oder des Bruders. Ich habe auch die Bedeutung von Großfamilien überdacht. Warum müssen alle so viele Kinder haben, warum gibt es keine Geburtenkontrolle, keine Familienplanung?"
Die Gesellschaft in Tschetschenien sei absolut unaufgeklärt, so Süleyman. Und so erklärt er auch die andauernde Verfolgung Homosexueller.
"Die Machthaber sind überzeugt, dass sie das moralische Recht haben, ja sogar gezwungen sind, so zu handeln. Sie sind ungebildet, sie wissen einfach nicht, dass Homosexualität ein natürlicher Teil der Gesellschaft ist. Mir scheint, sie glauben wirklich, dass sie Homosexualität mit Gewalt ausrotten können."
Internationale Welle der Solidarität für Opfer
Als die russische Zeitung Nowaja Gaseta vor zwei Jahren das erste Mal über eine groß angelegte Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien berichtete, löste das eine internationale Welle der Solidarität mit den Opfern aus. Auch die deutsche Bundeskanzlerin sprach das Thema bei einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin an.
Der Nowaja Gaseta zufolge sind die jüngsten Verhaftungen und Todesfälle eher auf einzelne lokale Größen und Polizisten zurückzuführen und nicht mehr zentral angeordnet. Es gibt aber nur wenig zuverlässige Informationen. Süleyman sagt, die Peiniger täten inzwischen alles, um ihr brutales Vorgehen gegen die Homosexuellen zu verschleiern.
"Bevor die Polizisten ihre Opfer wieder frei lassen, schüchtern sie sie ein, zwingen sie, Blanko-Formulare zu unterschreiben, mit denen sie sie später beliebig unter Druck setzen können. Oder sie zwingen sie, Fingerabdrücke auf Waffen zu hinterlassen, um bei Bedarf eine Anklage fabrizieren zu können. Sie nutzen alle Mittel, damit ihr Vorgehen geheim bleibt."
Süleyman kann sich keine Rückkehr nach Tschetschenien vorstellen.
"Das ginge nur, wenn ich mein jetziges Leben beenden würde. Wenn ich mich zwingen würde, mich den konservativen Werten dieser Gesellschaft unterzuordnen, eine Frau zu belügen und sie zu heiraten. Aber ein glückliches Leben, in dem ich mich wohlfühle, kann ich mir dort nur schwer vorstellen. Und ich rate allen Schwulen und Lesben, die heute in Tschetschenien leben, die Republik zu verlassen, in eine arme Region Russlands, nach Georgien, nach Armenien, wohin auch immer. Sie würden sich dort um einiges freier fühlen. Und glücklicher."