Die Sorgen vieler Europäer, dass in vielen Bereichen hohe Standards verfallen, seien unberechtigt. Es gebe keine großen Qualitätsunterschiede zwischen den USA und Europa, so Hamilton. Außerdem werde nicht um Standards verhandelt: "Es geht nicht darum, wie wir ein Hühnchen reinigen."
Vielmehr gehe es darum, die Regeln des "westlichen Modells" bei beispielsweise Umwelt- und Verbraucherschutz oder bei Gewerkschaften zu erhalten. "Die Weltwirtschaft heute ist diffus mit aufstrebenden Märkten und Mächten, die andere Vorstellungen haben. Wir stehen vor einer Erosion unserer gemeinsamen Standards." TTIP sei eine Möglichkeit, dies aufzuhalten.
Bei TTIP handele es sich nicht um ein gängiges Handelsabkommen, sondern um einen Prozess, ein "living agreement", so Hamilton. Am Ende werde nicht nur ein Dokument stehen, viele Regeln würden sich erst in einem jahrelangen Prozess entwickeln. Es gehe um ein neues Miteinander.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen Europa und den USA, es bleibt ein Streitthema. In den vergangenen Tagen sind wieder Zehntausende von Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren. Gestern haben nun EU und US-Vertreter in New York mit einer weiteren Verhandlungsrunde in Sachen TTIP begonnen und ich hatte gestern Abend Gelegenheit, darüber mit Daniel Hamilton zu sprechen. Er ist Direktor am Center for Transatlantic Relations in Washington. Das ist einer der einflussreichsten amerikanischen Think Tanks in Sachen Außenpolitik. Ich habe Daniel Hamilton zunächst auf die Proteste angesprochen und ihn gefragt, ob die Europäer bei TTIP empfindlicher sind als die Amerikaner.
Daniel Hamilton: Ich weiß nicht, ob empfindlicher. Wir haben auch eine Debatte in den USA, aber diese Debatte richtet sich eher nach der Transpacific Partnership, auch eine andere Handelsverhandlung, die weiter ist als TTIP, und dort sind die Sorgen in den USA ähnlich wie die Sorgen hier in Europa. Leute, Gewerkschaften, Umweltschützer und Verbraucherschutzorganisationen, die Sorgen haben wegen niedriger Standards im pazifischen Raum. Aber wenn man in den USA über Europa fragt, TTIP, das ist für die meisten Amerikaner eine gute Sache, weil wir beide hohe Standards haben und sie erhalten wollen. Deswegen ist die Stimmung in den USA viel anders als die Stimmung gerade in Deutschland in der öffentlichen Meinung.
Armbrüster: Oder könnte es sein, dass die Amerikaner hier sehr klar sehen, dass sie bei diesen Verhandlungen und bei diesem Abkommen der Gewinner sein könnten?
Hamilton: Nein. Ich glaube, bei solchen Verhandlungen kann es keinen Gewinner und Verlierer geben. Beide erhoffen, vieles zu gewinnen und gemeinsam zu gewinnen. Ich glaube, was oft fehlt in der Debatte, in Deutschland wenigstens und in Europa, ist die externe Dimension von TTIP. Es geht nicht nur darum, dass wir unseren transatlantischen Markt eröffnen wollen. Wir wollen uns neu positionieren für die Weltwirtschaftsordnung von morgen und nicht die von gestern und in dieser Weltwirtschaftsordnung wird der Einfluss von dem westlichen Modell, von USA und EU, immer geringer sein, wenn wir nicht zusammenhalten und wollen, dass Standards, die wir für wichtig halten, bleiben.
"Wir beide stehen vor einer Erosion unserer Standards"
Armbrüster: Könnte es denn sein, dass viele Europäer gerade an diesem Gestern gerne festhalten wollen, lieber in der Welt von gestern leben wollen?
Hamilton: Es gibt immer natürlich Stimmen, die sich danach sehnen, nach den guten alten Zeiten sozusagen. Aber die Weltwirtschaft heute ist eine diffuse Weltwirtschaftsordnung mit aufstrebenden Märkten und Mächten, die ganz andere Vorstellungen haben von Verbraucherschutz oder Umweltschutz, von Gewerkschaftsstandards und so, und der Anteil von der Weltbevölkerung in Nordamerika und Europa schrumpft, gerade in Europa schrumpft, und ich glaube, nur gemeinsam haben wir jetzt eine Möglichkeit, diese Standards, die internationalen Regeln sozusagen zu erhalten, die wir selber in den letzten Jahrzehnten geschrieben haben.
Armbrüster: Gerade bei den Standards gibt es ja auf europäischer Seite sehr oft die Sorge, dass es vor allen Dingen darum geht, diese Standards zu senken. Gibt es solche Sorgen umgekehrt denn auch in einigen Bereichen auf amerikanischer Seite?
Hamilton: Ja. Ich glaube, es ist einfach zu kurz gesehen zu sagen, eine Seite des Atlantiks hat hohe Standards und die andere nicht. Man kann auf etliche Beispiele verweisen, wo amerikanische Standards höher sind als in Europa und umgekehrt. Es geht nicht mehr darum. Wir verbringen so viel Zeit damit, wie man ein Hühnchen bereinigt, anstatt zu sehen, dass wir beide vor einer Erosion unserer Standards stehen wegen dieser diffuseren Weltwirtschaftsordnung. Wir müssen es gemeinsam sehen. Die Prozesse in Europa für Verbraucherschutz sind oft anders als in den USA, aber in mancher Hinsicht äquivalent, und bei TTIP wollen wir das anerkennen, dass diese Äquivalenz besteht und dass die Behörden miteinander arbeiten, damit die Standards hoch bleiben und nicht herunterfallen. Und die verhandeln nicht über Standards. Das ist vielleicht ein Missverständnis.
Armbrüster: Jetzt sind ja viele strittige Themen bei diesen aktuellen Verhandlungen bereits ausgeklammert. Gesprochen wird in diesen Tagen vor allem über einige Elemente bei diesem Abkommen, die relativ unstrittig sind, über die man sich leicht einigen kann. Wir haben das gelesen. Unter anderem wird gesprochen über Fabrikkontrollen oder über solche Sachen wie gleiche Maße bei Autoblinkern. Zeigt sich da schon an dieser Kleinteiligkeit, dass TTIP in einer Sackgasse steckt?
Hamilton: Nein! Diese Kleinarbeit ist eigentlich ein Kernstück der TTIP-Verhandlungen. Trotz aller Aussagen, dass sie alle Standards senken wollen, geht es in dieser Verhandlungsrunde diese Woche in New York um neun Bereiche. Bei diesen neun Bereichen haben sie identifiziert, wo sie vielleicht ein bisschen die Prozesse besser machen können. Sie sagten Autoblinker. Die sind anders, die Standards in den USA und Europa, aber nicht weniger sicher. Die sind einfach anders und manchmal äquivalent. Wir haben auch diese Schwarz-Weiß-Betrachtung manchmal, Vorsorgeprinzip in Europa und Sound Science in den USA, als ob Europa nichts mit Sound Science zu tun hat und als ob die USA nichts mit Vorsorgeprinzip zu tun hat. Das stimmt einfach nicht. Man muss genau schauen. Deswegen sind die Details wichtig. Bei der Medizin, der Genehmigung von Medizin und so weiter, ist das Vorsorgeprinzip in den USA natürlich eine höchste Priorität. Man könnte sagen, vielleicht noch höher als in Europa. Ich glaube, wenn wir verfallen in dieses "wir sind besser oder sie sind besser", das ist nicht das Ziel.
"Ein Prozess des neuen Miteinanders und nicht irgendein Trade Document"
Armbrüster: Ich höre da heraus, dass Sie ein starker Befürworter dieser Verhandlungen sind. Können Sie es denn verstehen, wenn Leute auch sagen, wir haben das verstanden, ihr wollt die beiden Volkswirtschaften eher zusammenbringen, aber eigentlich wollen wir was anderes, wir wollen lieber eigentlich getrennt bleiben, weil unsere Welten, die Art und Weise, wie unsere Volkswirtschaften funktionieren, sind einfach zu unterschiedlich, und wenn es sein muss, dann nehmen wir auch die möglicherweise wirtschaftlichen Nachteile einer solchen Trennung in Kauf, wenn wir bei TTIP nicht mitmachen. Können Sie so was verstehen?
Hamilton: Natürlich. Das ist Demokratie. Und wenn der demokratische Wille da ist, dass wir das nicht machen, dann werden alle Leute das respektieren. Ich bin für die Prinzipien, die dahinter stehen, nicht für jeden Aspekt der jetzigen Verhandlungen. Ich habe auch meine Kritikpunkte. Es geht nicht darum. Ich verstehe den demokratischen Willen und kann das natürlich respektieren. Aber ich glaube, man übersieht oft, wie verflochten wir eigentlich sind. Die Idee, dass Europa ein Block ist und ganz anders ist als die USA, übersieht, wie verflochten durch Investitionen und natürlich die Zusammenströmung von Menschen, wie verflochten unsere Wirtschaften sind. Das heißt, bis zu zwei Millionen Arbeitsplätze in Deutschland sind da wegen der Investitionen und des Handels mit den USA, und fast eine gleiche Zahl von amerikanischen Arbeitsplätzen sind da wegen dieser tiefen Verbindung mit Deutschland, nicht zu sprechen mit der EU an sich, und 15 Millionen Menschen haben einen Arbeitsplatz wegen dieser Verflochtenheit im nordatlantischen Raum. Wir sind sehr eng verbunden, noch enger als mit irgendeiner anderen Volkswirtschaft in der Welt, aber es sind noch Friktionen, die entstehen aus dieser tiefen Integration, und TTIP ist ein Versuch, diese Friktionen bei Seite zu legen, und nicht, wie manche Kritiker meinen, ganz andere Ziele zu haben.
Armbrüster: Die Verhandlungen sollen ja Ende dieses Jahres schon abgeschlossen sein. Ist dieser Zeitplan einzuhalten?
Hamilton: Ich habe Zweifel, ob sie wirklich ein großes Paket bis dann schaffen. Man muss aber auch sehen: TTIP ist kein gängiges Handelsabkommen, weil es auch mit diesen Regulativen zu tun hat. Es hat mit Dienstleistungen zu tun, es hat mit Investitionen zu tun. Es ist eher ein Prozess, was in Zukunft gehen wird. Es ist ein neues Miteinander von Europa und den USA. Es ist kein Dokument in dem Sinne. Es wird ein Dokument wahrscheinlich geben, aber bei den Regulativen zum Beispiel müssen die Behörden von sich aus zu diesem Abkommen kommen. Das wird nicht über den Kopf hinweg ausgehandelt. Unsere Food and Drug Administration, die für Essen und so zuständig ist, muss mit den europäischen Behörden im Klaren sein, wie sie in Zukunft arbeiten. Das heißt, sie werden einen Anhang zu dem TTIP-Paket bringen, und alle Behörden müssen das tun. Das heißt, das dauert einige Jahre. Deswegen muss man über einen Prozess nachdenken und nicht über ein Stück Papier. Die Verhandler reden von dem Living Agreement, ein lebendes Dokument, ein lebendes Abkommen, und das ist eher das, was TTIP ist, ein Prozess des neuen Miteinanders und nicht irgendein Trade Document, ein Blatt Papier.
Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Daniel Hamilton, der Direktor des Center for Transatlantic Relations. Vielen Dank, Herr Hamilton, für das Gespräch.
Hamilton: Vielen Dank! Danke schön.
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