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Tucholykys Isolation auch in den deutschen Zerwürfnissen

"Ein deutsches Leben" ist ein deutsches Geschichtsbuch par excellence. Und es hallt merkwürdig nach, wie Tucholsky mit der Reise nach Rheinsberg sein Leben angeht: Dem Wunsch, in wundervoller Unbekümmertheit zu leben - der ihm nicht erfüllt wird.

Von Helmut Böttiger |
    Kurt Tucholsky
    Kurt Tucholsky (picture alliance / dpa)
    Tucholskys Name hatte immer einen großen Klang. Aber so richtig entdeckt worden ist er erst wieder in den 60er-Jahren, als es den Bundesdeutschen schon wieder ganz gut ging und sein scharfzüngiger, frecher und leichter Ton in das Lebensgefühl der "Swinging Sixties zu passen schien. Die Musik der Beatles, die Ausstrahlung etwa John Lennons und eine bezaubernde Liebesgeschichte wie "Rheinsberg" von Kurt Tucholsky – das lag plötzlich auf einer Linie. Vielleicht hat auch der Biograf Rolf Hosfeld, geboren 1948, hier ein Schlüsselerlebnis gehabt. Denn sein Buch über Kurt Tucholsky setzt nicht mit Vorgeschichte, Beruf des Vaters und Geburt des Protagonisten ein, sondern mittendrin: Im August 1911, als der Jurastudent Kurt Tucholsky und die Medizinstudentin Else Weil im D-Zug von Berlin nach Löwenberg sitzen und von dort mit der Kleinbahn in das Residenzstädtchen Rheinsberg am Grienericksee fahren – das klingt alles gleichzeitig preußisch und fast heiter, geradezu fontanisch. Und so etwas ist wie ein Glücksmoment in der Geschichte. "Rheinsberg", als Verarbeitung dieses Erlebnisses rasch hingeschrieben, machte Tucholsky bekannt. Und auch später markierte es so etwas wie einen Sehnsuchtsort in seiner Biografie, einen unbeschwerten Zustand kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als alles leicht zu sein schien. Der Erste Weltkrieg würde die zentrale Erfahrung für Tucholsky sein. Sein Biograf Hosfeld stellt das deutlich heraus:

    "Die Vorgeschichte des immer nervöser werdenden Europa, der mit Urgewalt einbrechende Krieg und vor allem die Nachgeschichte dieser die ganze Welt moralisch verändernden Katastrophe – das war der geschichtliche und seelische Rahmen für Kurt Tucholskys kurzes und intensives Leben."

    Typisch für Tucholskys Leben war auch, dass er den bezaubernden Ausflug nach Rheinsberg nicht etwa mit seiner Verlobten machte, einer gewissen Kitty Frankfurther, von der man so gut wie gar nichts weiß. Besser kennt man seine Geliebte Else Weil. Im "Rheinsberg"-Capriccio heißt sie "Claire". Doch im wirklichen Leben nannte sie Tucholsky ganz anders, nämlich "Pimbusch": nach Claire Pimbusch, einer Figur in Heinrich Manns Roman "Im Schlaraffenland". In diesem Buch über die unausstehliche, neureiche Berliner Gesellschaft des Kaiserreichs ist das eine sehr teure, in manchen Details eher hässliche Kokotte, aber von einem starken mondänen Reiz.

    "Sie hatte tatsächlich etwas von einer erotischen Ausnahmeerscheinung an sich, aber anders als Heinrich Manns überzeichnete Romanfigur. Else Weil war – so der Verlegersohn Heinz Ullstein – ein nicht unbedingt hübscher, aber anziehender Mensch mit ungewöhnlich zarten und schönen Händen. "Einmal legte Claire die Hand auf den Bootsrand", heißt es in "Rheinsberg", "diese ein wenig knochige und männliche Hand, auf deren Rücken blassblaue Adern sich strafften; sah man aber die holzgeschnitzten, langen Finger, so ahnte man, es war eine erfahrene Hand. Diese Fingerspitzen wussten um Wirkung ihrer Zärtlichkeiten, kräftig und sicher spielten die Gelenke." Ein 21-Jähriger schreibt das, offenbar nicht ganz lebensunerfahren, pathos- und romantiklos, mit fast fotografisch sezierendem Blick. Und doch spürt man, wie tief ihn dieser Anblick berührt. Und dann der schnippische Eros ihrer Privatsprache und ihres kindlichen Schlafzimmergealbers. Es hatte, wie sie ihm einmal gestand, stets etwas Rauschhaftes an sich, wenn sie zusammenkamen."

    Rolf Hosfelds Biografie ist nicht sehr umfangreich und ausschweifend, sie umfasst 300 Druckseiten, aber der Autor greift mit großer Sicherheit die wesentlichen Punkte heraus und beschreibt sie sehr plastisch. Das Leitmotiv ist die ständige innere Zerrissenheit Tucholskys. Und zwar nicht nur in erotischen Dingen. Auch politisch sind seine Haltungen viel differenzierter zu betrachten, als es gemeinhin geschieht. Er ist oft widersprüchlich und in seiner Identität als heimatloser Linker entsprach er sehr früh einem Prototyp des 20. Jahrhunderts. Dass er Jude war und welche Dimension das in Deutschland bekam, wurde ihm erst relativ spät bewusst. Tucholsky stammte aus einer bürgerlichen, assimilierten Familie, in der die konkrete Religionsausübung keine Rolle spielte. Sein Vater war Bankdirektor und starb, als der Sohn 15 Jahre alt war. Kurt Tucholsky studiert, nach eher durchschnittlichen Schulbesuchen, Jura, und als Jurastudent lernt er im Herbst 1911 in Prag auch Franz Kafka kennen. Anlass ist ein Besuch bei Max Brod, dem einflussreichen Theater- und Musikkritiker des "Prager Tagblatts", der einen Ruf als Förderer junger Talente hat. Als ein solches wendet sich Tucholsky an ihn. Er hat außer wenigen Zeitungsartikeln noch nichts veröffentlicht, aber das Manuskript von "Rheinsberg" in der Tasche. Durch Brods Vermittlung wird es vom Berliner Verleger Axel Juncker tatsächlich im November 1912 gedruckt.

    "Dem jungen Kafka erschien Tucholsky als ein "ganz einheitlicher Mensch", von dem er zu berichten weiß, dass er einmal Rechtsanwalt werden will, doch an seiner hellen, fast mädchenhaften Stimme zweifelt und vor allem an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die der Advokatenberuf zwingend erfordert. Zudem habe er, stets auf Contenance bedacht, "Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche", die er bei älteren Berliner Juden seiner Zeit oft beobachtete. Und dann: "Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von 'nich' gebildet werden." Tucholsky war kein Bohemien. Er würde noch in den Zeiten des Exils grundsätzlich mit zwei Schrankkoffern voller Anzüge und feinster Wäsche umherreisen."

    Das Bürgerliche pflegte Tucholsky Zeit seines Lebens. Hosfeld hebt die Züge des Gentlemans hervor, die ungewöhnlich guten Manieren. Tucholsky habe etwas von einer ästhetisierenden Herrennatur an sich gehabt, die keine Autorität über sich ertragen konnte. Das führt zu den verschiedenen Ausdrucksformen seines Charakters: den preußischen Kadavergehorsam lehnte er immer ab, aber er hasste Dilettantismus. Im Nachhinein erscheint es fast zwangsläufig, welche Entwicklung seine journalistische Karriere nahm. Durch den "Rheinsberg"-Erfolg ergaben sich einige Möglichkeiten. Und er entschied sich für die allerbeste – nämlich für die von Siegfried Jacobsohn herausgegebene "Schaubühne", aus der später die berühmte "Weltbühne" werden sollte. Es gab hier eine Wahlverwandtschaft. Beide waren säkulare Juden, beide fühlten sich wie selbstverständlich einer deutschen Kulturnation zugehörig. Das Jüdische war zwar kein Thema, aber sie erkannten im spezifischen scharfen Witz auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit, die aus denselben Wurzeln kam. Tucholskys Feuilletons sind beißend und entlarvend. Sie gelten vor allem dem sich entwickelnden neureichen Berliner:

    Nichts als "Klamauk, Überzeugungslosigkeit und bedingungsloses Kriechen vor einer Hootfollé, die, aus Posen zugezogen, mit Geld alles kaufen zu können glaubt."

    Der Biograf fügt hinzu:

    "Kurz: Berlin ist "nervös und injebildt". Alle sind skeptisch. Und die unangenehme Kehrseite ist der Kitsch. "Fein und still" wie Fontane möchte Tucholsky am liebsten sein, doch die Zeiten haben sich gewandelt. Die Stadt ist laut und blasiert geworden. Das Eitelkeiten zelebrierende Caféleben hat im Berliner Westen Konjunktur. Und heute, meint Tucholsky im Frühjahr 1914, "sind wir so weit gekommen, dass der Berliner, der zuhause bleibt, nächtens noch polizeilich bestraft wird."

    Man sieht: Rolf Hosfeld pickt sich immer wieder die prägnantesten Zitate heraus. Und er garniert damit seine atmosphärisch dichten Schilderungen, sodass ein sehr lebendiges Gesamtbild entsteht. Unter der Hand ergeben sich durchaus auch aktuelle Bezüge, denn der Berliner als solcher hat sich wenig geändert – auch wenn sich die Bevölkerung ständig austauscht, ständig neue Bewohner zuziehen: Es gibt einen bestimmten "Genius Loci", den Tucholsky schon im Kaiserreich benennt und den er vor allem in den sogenannten "goldenen zwanziger Jahren" rückhaltlos enttarnt. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs verstummt Tucholsky als Autor. Er wird als Armierungssoldat ins Baltikum einberufen, nicht direkt an die Front. Und das Baltikum löst merkwürdige, retardierende Momente in ihm aus. Die nördliche Landschaft und die Ostsee erinnern ihn an frühe Jahre der Kindheit: Als Tucholsky drei Jahre alt war, wurde sein Vater von Berlin nach Stettin geschickt. Und die Zeit zwischen dem dritten und dem zehnten Lebensjahr verbringt er dort. Das Kurland weckt in ihm tiefe Heimatsehnsüchte. Und diese Erfahrung wird ihn zeitlebens prägen.

    "Er verliebt sich regelrecht in dieses nordische Land mit seinen Weiten und dem dramatischen Licht und ist überwältigt von der landschaftlichen Schönheit, die ihn hier umgibt. Hätte doch Deutschland etwas von dieser archaischen Vornehmheit! Alles hier sei "so klar und sauber und unsagbar deutsch", schwärmt er in der Erinnerung, fast so, als wäre "Deutschland eine Skizze, und Kurland, das sei erst das fertiggestellte Werk."

    Die Kindheitserinnerungen an Stettin, die Versetzung im Ersten Weltkrieg ins Kurland – Tucholsky wird bereits Ende der zwanziger Jahre, in einer unbewussten Vorahnung, ein vorzeitiges Exil antreten und einen festen Wohnsitz im Norden suchen, in Schweden, in einem Land, dessen Sprache er gar nicht spricht. Hier walten Sehnsüchte, die der Biograf Hosfeld andeutet, aber nicht näher ausführt. Er muss gar nicht in ausufernden Einzelheiten beschreiben, was in Tucholsky näher vorgeht, als er in seinem Kriegseinsatz die 19-jährige Mary Gerold kennenlernt. Sie hat die höhere Töchterschule in Riga besucht und ist eine Baltin, blond und kühl; Sie entspricht in ihrem Habitus genau dem, was Tucholsky als seine Sehnsuchtslandschaft erkannt hat. Mary Gerold wird seine einzige Lebensbeziehung werden, er wird sie trotz etlicher Wirren heiraten, sie wird sich wieder von ihm trennen, aber sie ist die einzige Frau, bei der er heftige Eifersuchtsattacken verspürt. Ein größerer Gegensatz als der zwischen Else Weil, der frivolen "Pimpusch", wie er sie nennt, und der distanzierten Mary Gerold ist nicht denkbar. Tucholsky schwankt auch längere Zeit zwischen beiden hin und her. Andere Biografen würden sich hier in vielen Spekulationen und Erwägungen ergehen, Hosfeld gibt eher knapp die äußeren Daten wieder: Als Mary Gerold nach dem Krieg, im Januar 1920, nach Berlin zu Tucholsky kommt, kühlt die Beziehung erst einmal ab. Zu große Nähe zu ihr scheint er als Gefahr zu empfinden. Und er heiratet am 3. Mai dieses Jahr tatsächlich Else Weil.

    "Viele Dokumente über das Verhältnis Tucholskys zu Else Weil gibt es nicht. Doch Siegfried Jacobsohn lässt in einem Brief an ihn aus Sylt im Sommer 1919 "Madame Pimbusch" in einem Ton herzlich grüßen, der auf eine sehr enge Beziehung der beiden in diesen Monaten schließen lässt. Zur gleichen Zeit schreibt Tucholsky an Mary als "Dein Mann", der in Berlin eine Art Eremitendasein führt, "liest und raucht" und still vor sich hin lebt."

    Im Sommer 1923 trennen sich Tucholsky und Else Weil. Ein Jahr später heiratet er Mary Gerold, die ihn wiederum Ende 1928 verlässt. Denn Anfang 1927 hat Tucholsky Lisa Matthias kennengelernt, mit der zusammen er jenen Sommer verbringt, der zum zweiten verspielten und frivolen Liebestext "Schloss Gripsholm" führen wird – Lisa Matthias ist so etwas wie eine Neuerfindung von "Pimbusch", von Else Weil, ein Gegengewicht zu Mary Gerold – und Tucholsky findet keinen Halt. Auch Lisa Matthias wendet sich, voller Eifersucht, nach einigen Jahren von ihm ab, seine letzte Zeit wird Tucholsky in Schweden mit einer jungen Privatsekretärin, zu der er eine heimliche Liebesbeziehung unterhält, und der quasi offiziellen Geliebten Hedwig Müller, einer wohlbetuchten Schweizerin, verbringen.

    Rolf Hosfeld verzichtet in seiner Darstellung auf allzu dramatische, theatralische Effekte, die sich hier sehr schnell aufdrängen. Denn parallel dazu findet sich auch eine entsprechende Zerrissenheit in Tucholskys politischen Äußerungen. Das fängt schon damit an, dass er im Krieg in der Presseabteilung einer Artilleriefliegerschule arbeitet und dort die Zeitschrift "Der Flieger" konzipiert, die durchaus im Sinne deutscher Kriegspropaganda funktioniert. Tucholsky ruft zur Kriegsanleihe auf und bekommt im April 1918 sogar das Verdienstkreuz für Kriegshilfe verliehen. Im "Berliner Tageblatt" veröffentlicht er dann 1919, in den großen Wirren nach Kriegsende, ein "Interview mit sich selbst", in dem er die Schizophrenie eingesteht, die für ihn eine Überlebensstrategie geworden war. Und im selben Jahr schreibt er für die "Weltbühne" unter dem Titel "Wir Negativen" einen Grundsatzartikel, der sehr kategorisch ist und unbedingte "Redlichkeit" fordert, aber bereits eine Haltung aufzeigt, die während der Weimarer Republik für seine publizistischen Aktivitäten typisch wird: Die notwendigen Kompromissbildungen des demokratischen Alltags sind seine Sache nicht. Zudem überwältigt ihn des Öfteren seine "Sehnsucht nach Gestern", wie es Hosfeld leitmotivisch nennt: nach einer bürgerlichen Kultur, die es so in Deutschland nicht gegeben hat, nach einer Stille wie in der Landschaft des Kurlands – Hans Mayer nannte ihn zurecht im Kern "wertkonservativ".

    Den deutschen Nationalismus und Militarismus lehnt Tucholsky jedoch rigoros ab. Er begeistert sich für Charlie Chaplin als den "ewigen Zivilisten". Großen Wert legt Hosfeld in seiner Biografie auf die französische Erfahrung Tucholskys: Er wird einige Jahre lang Korrespondent der "Weltbühne" in Paris. Und hier erst lernt er, ein richtiger Republikaner zu werden.

    "Angenehm ist für Tucholsky vor allem, dass Frankreich keinen Militärfimmel kennt. Es gibt ein "unbeirrbares Zivil" der Franzosen, stellt er fest, und der französische Offizier rangiert sogar "etwas hinter" dem sogenannten Zivilisten. Pazifismus ist in Paris nach dem Massensterben auf den Feldern von Flandern und der Normandie ein beständiges Thema, quer durch die politischen Lager. Selbst "die schärfsten französischen Nationalisten", belehrt er seine deutschen Leser, "haben keine Expansivgelüste"."

    Als in England im Jahr 1924 die Konservativen haushoch die Wahl gewinnen, redet er Klartext:

    "Ein englischer Tory nämlich "mit allen seinen Kriegsschiffen, Kolonien und Soldaten sei letztlich immer noch demokratischer als unsere Demo- und Sozialdemokraten!" Deutschland aber, so sein Urteil, mochten den Westen im Grunde nicht, und "es hat ihn nie gemocht"."

    Gegen Ende der zwanziger Jahre entsprechen sich für Tucholsky die prekären privaten und politischen Verhältnisse. Er sieht früh die Gefahr von rechts, wendet sich zunehmend den Kommunisten zu und schreibt auch für deren Zeitungen, doch eine richtige politische Heimat findet er nicht. Das Bild, wie er im entlegenen Norden, in den schwedischen Wäldern, in einer einsamen Villa wohnt, wird kennzeichnend für seine Isolation auch in den deutschen Zerwürfnissen.

    Dass sich die Deutschen nie zur Demokratie bekannt haben, dass ihre Justiz immer noch die junkerhaft-nationale des Kaiserreichs ist und die Reichwehr sich keineswegs von den terroristischen rechtsradikalen Freikorps unterscheidet, wird immer deutlicher. Die Prozesse gegen Carl von Ossietzky, dem jetzigen Herausgeber der "Weltbühne", sind Schauprozesse der herrschenden Cliquen. Und als die "Weltbühne" auch wegen Tucholskys Satz "Soldaten sind Mörder" angeklagt wird, weiß er endgültig, dass er Deutschland zu meiden hat. Als Hitler die Macht ergreift, ist die Desillusionierung vollkommen:


    "Kurt Tucholsky hat sehr früh verstanden, dass die Niederlage der Demokratie Ende Januar 1933 total war. Und nichts schreckt ihn so sehr wie die Flucht vor diesem Eingeständnis in ein Traumland der Eigentlichkeit mit dem Namen "Das andere Deutschland". Es wäre wie eine linke Dolchstoßlegende. Man muss den Dingen in die Augen sehen. Die unentschlossene und handlungsgehemmte Republik – er selbst und die gesamte deutsche Linke eingeschlossen – hat den Untergang mit verursacht. Mit "tiefer Beschämung" sehe er jetzt oft auf das zurück, "was ich trotz meines innern Widerwillens in den letzten Tagen da noch getrieben habe."

    Es mehren sich auch die körperlichen Beschwerden. Tucholsky hat ein hartnäckiges Hals-Nasen-Ohren-Leiden, das ihn zu mehreren Operationen zwingt. Er greift verstärkt zu Alkohol sowie Beruhigungs- und Schlaftabletten. Die Option, zu seiner wohlhabenden Geliebten Hedwig Müller nach Zürich zu ziehen und von ihr finanziell abhängig zu sein, passt nicht zu ihm. In seinen letzten Jahren widmet er sich verstärkt Philosophen wie Schopenhauer und Kierkegaard, es geht um den Einzelnen und die Geworfenheit seiner Existenz. Ob Tucholskys Tod am 21. Dezember 1935 in einem Krankenhaus in Göteborg auf einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten zurückzuführen ist, ist nie richtig geklärt worden.

    Rolf Hosfelds Biografie ist aus einer journalistischen Distanz heraus geschrieben, es gibt hier keine identifikatorische Empathie. Aber gerade deshalb wirken hier die genau beschriebenen zeitgeschichtlichen Umstände umso eindringlicher. "Ein deutsches Leben", so lautet der Untertitel des Buches – und das klingt nicht triumphal oder heldenhaft, sondern in erster Linie sarkastisch. Diese Biografie ist ein deutsches Geschichtsbuch par excellence. Und es hallt merkwürdig nach, wie Tucholsky am Anfang mit der Reise nach Rheinsberg sein Leben angeht:

    "Schön wäre es, meinte Tucholsky einmal, "auf Eichendorffsche Art" zu reisen: "alles hinnehmen, träumen und betrachten." Ein Wunsch: "In wundervoller Unbekümmertheit" dahinzuleben."

    Buchinfos:
    Rolf Hosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Biografie. Siedler Verlag, München. 318 Seiten. 21,99 Euro