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Tübinger Kunsthalle zeigt Birgit Jürgenssen
Rostige High-Heels und Rayogramme

Ein pelziger Rattenkopf, eine Ofenklappe aus der eine Schürze wächst: Die Kunst der Österreicherin Birgit Jürgenssen stellt Mensch und Tier in Beziehung und fragt nach der Rolle der Frau. Eine frühe Feministin, die mit High Heels als Schuh-Skulpturen humorvoll Missstände aufzeigte.

Von Christian Gampert | 10.11.2018
    Ein Besucher schaut sich die Ausstellung "Gnadenlos. Künstlerinnen und das Komische" an
    Birgit Jürgenssen, Netter Raubvogelschuh, 1974/1975 (Carmen Jaspersen/dpa )
    Birgit Jürgenssen hat schon als kleines Mädchen, im Alter von acht Jahren, ernsthaft zu zeichnen begonnen. Durch die Kunstbände ihrer Eltern wurde sie mit Picasso vertraut, dessen Stil sie zu kopieren versuchte – und aus ihrem Spitznamen Bi, Birgit, formte sie das Pseudonym "Bicasso", erzählt Kuratorin Natascha Burger.
    "Eines der Werke, das wir auch hier in der Kunsthalle sehen, ist ein kleines Schulheft, wo Birgit angelehnt an Picasso, Pablo Picasso, Zeichnungen imitiert hat. Dieses Heftchen zeigt eigentlich schon sehr früh ihren exzellenten Ideenreichtum – für acht Jahre ist das schon beachtlich…"
    Erinnerungen an Meret Oppenheim werden wach
    Die enorme zeichnerische Begabung ist in vielen Werken von Birgit Jürgenssen sichtbar – obwohl die Künstlerin später vermehrt mit Fotografie arbeitete. Ein Paris-Aufenthalt in den 1970er-Jahren, als junge Frau, brachte sie dem Surrealismus, aber auch der postmodernen, dekonstruktivistischen Philosophie näher. Nach ihrer Rückkehr nach Wien hat sie konsequent mit surrealen Situationen, verformten Figuren und Körperfragmenten gearbeitet; besonders ihre hybriden Gestalten, Mensch-Tier-Wesen, stellen Fragen nach dem Kreatürlichen im Menschen, aber auch nach dem Schützenswerten im Tier. Und natürlich auch nach der Rolle der Frau: Paradigmatisch eine virtuose Farbstift-Zeichnung ohne Titel von 1978, ein pelziger Rattenkopf, der das Selbstportrait der Künstlerin quasi verdoppelt und sie als gefährliche Verführerin zeigt. Meret Oppenheims Pelztasse ist nicht fern…
    Im Zentrum des großen Saals sind dann Jürgenssens berühmte Schuh-Skulpturen platziert, ironisch verbogene High-Heels, die zu rostigen Rüstungen oder Raubvogel-artigen, federbesetzten Schuh-Imitaten werden können.
    Unerwünschtes Hausfrauendasein
    Jürgenssen verfremdet und veralbert also den Fetisch-Charakter dieser weiblichen Dekorationsstücke. Gleichwohl gefiel ihr das erotische Spiel, wie manche performative Aktfotos zeigen. Schon 1975 hatte sie aber ein skulpturales Statement zum, für sie, unerwünschten Hausfrauen-Dasein abgegeben - in der Ofenklappe eines heimischen Herds, der aus einer Küchenschürze herauswächst, liegt – wie ein Kind - ein Brotlaib.
    Das heißt: eine knallharte Feministin war sie nicht, eher zurückhaltend und mit Humor gesegnet.
    "Das Schöne an dieser Ausstellung ist, dass wir Birgit aus dieser feministischen Lade rausholen wollen. Sie hat selbst einmal in einem Interview gesagt: sie ist keine Feministin per se. Es gibt so viel mehr an Themen…"
    Die schön inszenierte Tübinger Schau gliedert das Gesamtwerk, das über 4.000 Titel umfasst, nun in Kapitel. Jürgenssen zeigte das Naturhafte im Menschen in surrealen "Rayogrammen", Objektschattierungen auf lichtempfindlichem Papier, in der Nachfolge von Man Ray, auf denen das Körperinnere als Lindenblatt erscheint. Archaische oder christliche Motive wie der Totentanz finden jetzt mit weiblicher Besetzung statt. Fotografierte Figuren des Pygmalion-Mythos werden mit Seide oder Gaze quasi verschleiert, Polaroids malerisch weiterentwickelt.
    Der eigene Körper als Kunstobjekt
    Die unglaubliche Vielfalt von Jürgenssens Themen und Techniken hatte natürlich den Nachteil, dass sie sich auf dem Kunstmarkt nie richtig durchsetzen konnte. Wo heute jeder Künstler mit einem signethaften Werk, einem einzigen Stil Corporate Identity erzeugt, probierte Jürgenssen immer etwas Neues aus.
    "Deswegen ist auch dieser Nachlass quantitativ sehr reich und groß."
    Die weiblichen Rollenkonflikte spielte Jürgenssen immer mit dem eigenen Körper durch, meist in der Fotografie: adrett angezogen presst sie Gesicht und Hände an eine Glasscheibe – auf der steht: ich möchte hier raus. Die großformatigen, expressiv-dunklen Papierarbeiten ihrer Spätphase spielen in der Unterwelt der griechischen Mythologie und können - vielleicht - als Antwort auf ihre Krebserkrankung gelesen werden, an der sie 2003 starb. Immerhin hat die zurückgezogene Künstlerin durch ihre Arbeit ein gewisses Selbstbewusstsein erlangt: "Ich bin", steht auf einer Schultafel auf der kleinen Material-Collage von 1995. Neben der Tafel hängt freilich ein Schwamm; das, was man ist und werden könnte, kann immer – und ziemlich schnell – ausgewischt und ausgelöscht werden.