Gebhard Müller: "Am Kilianstag des 8. Juli 1514 wurde nach unverhältnismäßig kurzen Verhandlungen zwischen Herzog Ulrich von Württemberg und den sogenannten Landständen ein Vertrag abgeschlossen, der als 'Tübinger Vertrag' in die Geschichte des Landes und in die deutsche Verfassungsgeschichte überhaupt eingegangen ist."
Der Redner, der anlässlich eines Festaktes zum 450. Jahrestag des "Tübinger Vertrages", am 9. Juli 1964, so große Worte wählte, musste es wissen. Gebhard Müller war damals Präsident des Bundesverfassungsgerichts und zuvor Ministerpräsident Baden-Württembergs gewesen.
Kurz waren die Verhandlungen zwischen dem Herzog und seinen Landständen in der Tat. Ulrich, ein ob seiner Unbeherrschtheit und seiner Brutalität gefürchteter Haudrauf, war in großer Finanznot. Aufwändige Kriege in der Pfalz und in Burgund, prunkvolle Turniere und ein teurer Hofstaat, dazu Missernten und Teuerungsjahre, hatten sein Land an den Rand des Ruins gebracht. Fieberhaft suchte er nach neuen Einnahmequellen. Eine indirekte Verbrauchssteuer auf Fleisch, Wein und Getreide, sollte Abhilfe schaffen. Doch die trieb die Bauern auf die Barrikaden. Im Mai 1514 brach im Remstal der Aufstand des "Armen Konrad" los, die erste Revolution in Württemberg. In seiner Not berief Herzog Ulrich einen Landtag nach Tübingen ein. Das war damals eine Ständeversammlung von Prälaten, Rittern und Städten, aber ohne Bauern.
Gebhard Müller: "Der Herzog wollte eine Sanierung der Schuldenlast und ein gemeinsames Vorgehen gegen die Bauern. Die Stände, mit dem letzterem Ziel konform, wollten ihre finanziellen Leistungen möglichst gering halten und für die Zukunft Vorsorge gegen eine neue Misswirtschaft, Verschuldung und ungeregelte Belastung treffen."
Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Landesherr und Ständen
Wie die unterschiedlichen Interessen von Landesherr und Ständen, der sogenannten "Landschaft" im "Tübinger Vertrag" zum Ausgleich kamen, erläutert der schwäbische Dichter und Volkskundler August Lämmle in einer Südwestfunksendung vom 15. September 1952:
"Die Landschaft übernimmt von des Herzogs Schulden 800.000 Gulden. Dafür wird der "Landschaden" ein für allemal abgeschafft. Die Einziehung des Geldes aber besorgt die Landschaft durch eigene Einnehmer."
800.000 Gulden waren damals eine ungeheuere Summe. Auch wenn sie in Jahresraten gezahlt wurde, stellte sie eine drückende Last dar. Als Gegenleistung verzichtete der Herzog auf den "Landschaden", eine zur Deckung des Haushaltsdefizits erhobene landesherrliche Steuer, die wegen der Unbestimmtheit ihres Umfangs und ihrer Unvorhersehbarkeit eine nicht minder gefürchtete Bürde darstellte. Das war aber nicht alles.
August Lämmle: "Hauptkriege dürfen nur mit Rat und Wissen, andere Fehden nur mit Rat, Wissen und Willen der Landschaft geführt werden."
Der Herzog konnte von nun an also nicht mehr nach Lust und Laune zu den Waffen greifen. Die Landschaft musste vorher gehört werden. Ihr Mitspracherecht war eine heilsame Bremse gegen ausufernde Kriegskosten. Aber die Forderungen gingen noch weiter:
August Lämmle: "Dem "gemeinen Man" wird ab 1517 der "freie Zug" ohne Vermögensverlust gewährt."
Über drei Jahrhunderte in Kraft
Auf Neudeutsch heißt dies: Der "Tübinger Vertrag" gewährte den Untertanen Auswanderungsfreiheit, mehr noch: das Recht auf Freizügigkeit, auf freie Berufswahl und auf Existenzgründung. Errungenschaften, um die in anderen deutschen Ländern noch 1848 gekämpft wurde. Doch es kam noch besser.
August Lämmle: "Ohne Rat, Wissen und Willen darf nichts vom Lande verkauft oder verpfändet werden."
Damit konnte der Herzog mit der Herrschaft nicht länger nach Belieben schalten und walten. Nun war die Landschaft gleichberechtigter Miteigentümer des Landes. Nicht nur auf diesem Feld, auch auf dem der Finanz-, der Steuer- und der Außenpolitik brach der "Tübinger Vertrag" die Allmacht des Landesherrn. Der musste von nun an in diesen Bereichen seine Macht mit den Ständen teilen. Insofern war der Vertrag ein frühes Beispiel gelungener Gewaltenteilung, eine "Magna Charta" der Württemberger, die als Erstes Staatsgrundgesetz über drei Jahrhunderte in Kraft blieb und maßgeblich dazu beitrug, dass sich in weiten Teilen der Bevölkerung ein ausgeprägtes Rechtsbewusstsein entwickelte. Gepaart mit Freiheitswillen und Widerspruchsgeist, machte dieses den Herrschern das Regieren nicht einfach.