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Türkei
AKP will Demonstranten aus Istanbuls Zentrum vertreiben

Kurz vor der Wahl zieht der türkische Regierungschef Erdogan alle Register, um oppositionelle Kräfte kleinzuhalten und Kritik im Keim zu ersticken. Nun will er die Demonstranten vom zentralen Taksim-Platz verbannen und an das Ufer des Marmarameers auslagern.

Von Luise Samman |
    Kaum ein Wochenende, an dem Müge Tekin nicht demonstrieren geht. Internetzensur, Justizreform, Korruptionsskandal: Immer war die Mitarbeiterin einer Istanbuler Umweltorganisation ganz vorn mit dabei. Doch während im letzten Sommer Zehn-, ja Hunderttausende mit ihr demonstrierten, sind es inzwischen oft nur noch ein paar Hundert. Logisch, findet Müge: Nicht nur Medienfreiheit und Twitter würden in der Türkei zunehmend eingeschränkt, sondern auch das Demonstrieren.
    "Die Polizei hat dazu gelernt und neue, immer brutalere Strategien entwickelt: Spätestens eine Stunde vor einer geplanten Demo werden alle Zugänge zum Taksim-Platz gesperrt. Wenn die Leute versuchen, trotzdem dorthin zu gelangen, werden sie in die kleinen Gassen des Viertels zurückgedrängt, von oben drücken Wasserwerfer sie den Berg hinunter, weg von Taksim."
    Internetzensur, Justizreform, Korruption: Es gibt viele Gründe für Demonstrationen
    Taksim, immer wieder Taksim. Von jeher gilt der von Republikgründer Atatürk gestaltete Platz im Herzen Istanbuls als Symbol dafür, wer die Macht in der Türkei innehat. Dass Ministerpräsident Erdogan ihn mal mit Shoppingcentern, mal mit einer Mega-Moschee umgestalten will, werten seine Gegner als Angriff auf die Republik.
    Auch die neuesten Pläne der Regierung machen viele wütend: In Taksim sollen bald Bäume wachsen – aus dem Platz wird ein Park. Große Menschenansammlungen, wie im vergangenen Jahr, würde das automatisch erschweren. Wer demonstrieren will, möge stattdessen nach Yenikapi ausweichen, empfiehlt die Regierung. Dort, am Ufer des Marmarameers, ließ sie in den letzten Monaten eine Art Halbinsel für Großveranstaltungen aufschütten. Demonstrantin Müge schnaubt:
    "Taksim hat ein politisches Gedächtnis, unvergleichbar mit einem künstlich aufgeschütteten Platz in Yenikapi. Sie nehmen uns den wichtigsten Ort des Landes und sagen: Keine Sorge, wir geben euch einen neuen, hier dürft ihr spielen. Aber allein deswegen werden wir dort nicht hingehen!"
    Mehr als eine Millionen Menschen sollen sich ab sofort in Yenikapi versammeln können. Weitaus mehr, als Taksim jemals fassen könnte. Seht her, die türkische Demokratie blüht, scheint die Regierung ihren Gegnern sagen zu wollen. Doch nicht nur Demonstranten wie Müge sind empört.
    "Taksim ist unvergleichbar"
    "Dieser Platz entstand geradezu heimlich", schimpft einer der einflussreichsten Stadtplaner der Türkei, Korhan Gümüs. Selbst er und seine Kollegen erfuhren erst von Yenikapi, als der Platz bereits aufgeschüttet war:
    "Dieses Gebiet hat große historische Bedeutung, gleich mehrere Teile gelten als Weltkulturerbe. Hier einfach einen Betonplatz aufzuschütten, also die Topografie der ganzen Halbinsel zu verändern, lässt sich unmöglich mit den UNESCO-Kriterien vereinbaren."
    Doch die Proteste kamen zu spät. Von einem "Fest für die Demokratie" sprachen regierungstreue Medien, bevor der Platz gestern medienwirksam eingeweiht wurde. Gümüs sieht es genau andersherum:
    "Warum veranstaltet man eine Demonstration? Menschen könnten dafür ja auch in den Wald gehen. Oder sie könnten sich ein Schiff mieten und auf hoher See demonstrieren. Aber nein, sie tun es mitten in der Stadt, um die Menschen zu erreichen, die dort vorbeikommen. Demonstrationen brauchen nicht nur Teilnehmer, sondern auch ein Publikum."
    Schlechte Aussichten für Demonstranten
    Doch statt der 100.000 Passanten, die täglich am Taksim-Platz vorbeiströmen, verirren sich nach Yenikapi höchstens die Möwen. Von drei Seiten umschließt den Platz das Meer. Und auch die TV-Teams, die am Taksim-Platz rund um die Uhr bereit standen, weil ja doch immer irgendetwas passierte, kommen hier höchstens auf Anfrage her. Keine guten Aussichten für regierungskritische Demonstranten in einem Land, in dem inzwischen sämtliche TV-Kanäle Erdogan-Vertrauten gehören.
    Trotz allem. Genauso, wie es nur wenige Minuten dauerte, bis türkische Internetnutzer am vergangenen Donnerstag Wege fanden, um die Sperrung des Nachrichtendienstes Twitter zu umgehen, so wollen Müge und ihre Mitstreiter auch um den Taksim-Platz kämpfen. Die immer restriktivere Politik der Regierung kurz vor den Wahlen schürt nicht zuletzt auch die Kreativität.
    "Ich sage immer: Gut, dass sie damals den Gezi-Park geschlossen haben! Gut, dass dieses ganze Chaos ausgebrochen ist. Denn erst dadurch haben die Menschen hier angefangen, sich für den öffentlichen Raum in ihrer Nachbarschaft zu interessieren. Sie lernen jetzt erst, wie wichtig dieser Raum eigentlich ist."