Christine Heuer: Der neue türkische Präsident will nichts anderes als eine neue Türkei, eine Türkei, die ganz von ihm und seinen Vorstellungen geprägt ist. Recep Tayyip Erdogan hat nach seinem beeindruckenden Wahlsieg gestern vor, sein Land umzugestalten: Nationaler, religiöser, wirtschaftlich noch stärker soll die Türkei werden. Seine Kritiker befürchten den endgültigen Untergang von Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten.
Recep Tayyip Erdogan ist neuer türkischer Präsident und hat allerhand vor in diesem Amt. Und wie sieht all das die deutsche Politik?
Am Telefon begrüße ich Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Guten Tag, Frau Müntefering!
Michelle Müntefering: Guten Tag, Frau Heuer!
Heuer: Erdogan ist Präsident, er ist am Ziel seiner Wünsche, eine neue Türkei zieht herauf. Freuen Sie sich darauf?
Müntefering: Nun, die Türkei hat gewählt, Erdogan ist Präsident und das ist vor allen Dingen nun eine große Chance und eine historisch große Verantwortung, die Erdogan da hat. Und wir haben gerade gehört, auf dem Papier, auf dem Glückwunschschreiben der Kanzlerin, dass das eine ganz wichtige Partnerschaft für Deutschland ist. Und insofern natürlich arbeiten wir mit der Türkei ganz eng zusammen.
Entwicklungen in der Türkei sind besorgniserregend
Heuer: Sie sagen, eine historisch große Verantwortung. Glauben Sie denn, dieser Präsident wird dieser Verantwortung gerecht werden?
Müntefering: Das wird sich zeigen. Die letzten Monate und die Entwicklung in der Türkei geben natürlich auch Anlass zu Sorge, wenn man sieht das Twitter-Verbot, die Inhaftierung von Polizisten und anderes. Natürlich sind diese Sorgen, die geäußert werden, nicht unbegründet. Aber es gibt keinen Anlass, hat Cem Özdemir gesagt, aber ich sage, es gibt auch keinen Automatismus. Das heißt, es wird jetzt darauf ankommen, wie der Umbau der sogenannten neuen Türkei, wie Erdogan es bezeichnet, aussehen wird. Einen Automatismus gibt es eben nicht, von daher müssen wir uns, glaube ich, darauf konzentrieren, auch konstruktiv in die Gespräche zu gehen, da, wo wir gefragt sind.
Heuer: Aber wie konstruktiv kann man mit jemandem sein, der als autoritär gilt, der machtbesessen ist, korrupt, der Kritik und Demonstrationen niederknüppeln lässt? Im Grunde, Frau Müntefering, haben wir es da doch mit einer Art zweitem Putin zu tun?
Müntefering: Ich würde diesen Vergleich nicht direkt ziehen.
Heuer: Aber indirekt schon?
Müntefering: Erdogan spricht von einer neuen Türkei und wir wissen, dass es darum geht, eine Präsidialdemokratie aufzubauen. Und für mich stellt sich die Frage, wie die eigentlich aussehen soll. Soll es eine Machtbalance geben etwa über die Region? Die Türkei ist ja ein sehr großes Land. Was ist eigentlich mit der Rolle des Parlaments? Und das ist die Aufgabe der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe, auch mit den Parlamentariern in der Türkei darüber zu sprechen. Und das sehe ich auch dann als meine Aufgabe mit an, dort diese Gespräche zu führen.
Presse- und Meinungsfreiheit muss angesprochen werden
Heuer: Genau, das tun Sie ja aber auch schon und Sie sprechen da ja sicher auch oft mit türkischen Politikern aus der Opposition. Was wünschen die sich denn in diesen Gesprächen, was fordern die von Deutschland und der Europäischen Union?
Müntefering: Nun ja, es gibt ja immer noch das Ziel, die Türkei auch in die Europäische Union mit aufzunehmen, und an diesem Ziel muss auch festgehalten werden. Das bedeutet aber auch aus meiner Sicht, dass man über die Kapitel reden muss, die auch kritisch sind. Das heißt, das, was Sie angesprochen haben, was ist eigentlich mit Pressefreiheit, mit Meinungsfreiheit, das, was ich gerade auch mit Sorge betrachtet habe, darüber muss, glaube ich, auch ganz offen gesprochen werden. Nur wenn das funktioniert, dann kann man überhaupt eine Form von Einfluss auch nehmen.
EU-Beitritt bleibt Gesprächsthema
Heuer: Also, die Opposition möchte nach wie vor in die Europäische Union, mehrheitlich. Aber wenn wir uns die Sache mal ganz ehrlich ansehen, hat man ja nicht den Eindruck, dass der neue Präsident das noch möchte!
Müntefering: Das wird sich zeigen, wie diese Entwicklung jetzt voranschreitet. Ich halte an dem Ziel fest, aber natürlich muss man es auch abhängig machen davon, wie Gespräche laufen, wie Verhandlungen laufen. Und auf welcher Art und Weise man zusammenkommt zu einer Partnerschaft, zu einer Integration der Türkei in die EU. Das kann man nicht vorwegnehmen, sondern das ist eine Entwicklung, die jetzt einhergeht mit der Präsidentschaft von Erdogan. Und deswegen sage ich, das ist eine große Chance und eine historisch große Verantwortung.
Heuer: Frau Müntefering, aber trotzdem, das sind ja alles hehre Ziele und das sind so Debatten, die haben wir jahrelang geführt und auch zum Teil sehr leidenschaftlich geführt, und inzwischen hat man den Eindruck, der Zug ist eigentlich abgefahren und es sind eigentlich nur noch Sonntagsreden. Wie realistisch ist es, dass die Türkei tatsächlich noch auf die EU zustrebt und dass die EU bereit ist, die Türkei aufzunehmen unter diesem Präsidenten?
Müntefering: Ich stelle nicht in Abrede, dass in den letzten Monaten auch der Eindruck entstanden ist, dass sich die Türkei von Europa entfernt. Das ist, glaube ich, keine Frage, das ist mit den Entwicklungen dort, mit Verhaftungen, mit Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit tatsächlich auch einhergegangen. Aber darüber hat man auch immer noch nicht gesprochen, über diese Kapitel.
Und ich glaube, dass es deswegen umso wichtiger ist, das nun auf den Tisch zu legen. Und das ist schon ein Lackmustest jetzt auch, der – da gebe ich Ihnen recht – nicht nur in Sonntagsreden besprochen werden muss, sondern der tatsächlich in Verhandlungen sich auch auswirken muss.
Heuer: Klingt nach versöhnen statt spalten. Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete, Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Deutschlandfunk-Interview. Dafür herzlichen Dank, Frau Müntefering!
Müntefering: Vielen Dank, Frau Heuer!
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