Anhänger der türkischen Opposition sind sich sicher: Erdogans AK-Partei wird das Ergebnis der bevorstehenden Kommunalwahlen bei Bedarf fälschen! Anhänger der Regierung – wie Bürgermeister Melih Gökçek in der Hauptstadt Ankara – sind sich ebenfalls sicher: "Die Opposition wird uns Wahlfälschung vorwerfen – und dabei selbst betrügen."
Misstrauen ist das Wort, das die aktuelle Stimmung in der Türkei am besten umschreibt. Egal ob in Fernsehtalkshows, Teehäusern oder Twitterdiskussionen: Die Gerüchteküche brodelt. Tausende syrische Flüchtlinge sollen mit Pässen ausgestattet worden sein, um am 30.März für Erdogan zu stimmen und Beamte sollen mit gefälschten Wahlpapieren gleich dutzendfach wählen gehen – einmal in jedem Bezirk.
"Die beste Strategie aber ist, die Säcke mit den abgegebenen Stimmen auf dem Weg von der Wahlurne zur Wahlaufsicht einfach auszutauschen", erklärt Figen Imre, Rentnerin, Mutter – und seit kurzem Expertin für Wahlbetrug in Istanbul.
"Oder sie stempeln einige der Wahlumschläge am Morgen extra falsch und geben die den Wählern, die aussehen, als ob sie nicht ihrer Meinung wären. Deren Stimmen sind dann später ungültig."
33.000 Urnen in Istanbul - 33.000 freiwillige Wahlbeobachter
Um Manipulationen vorzubeugen, haben Figen und zwei Dutzend Mitstreiter die Initiative "Sandıkbaşındayız – Wir sind an den Wahlurnen" gegründet. Für die allein 33.000 Urnen in Istanbul suchen sie 33.000 freiwillige Wahlbeobachter. In zweistündigen Workshops klären sie Interessenten über häufige Fälschungsstrategien auf und auch über ihre Rechte, als Bürger dagegen vorzugehen. Nicht zuletzt geht es dabei vor allem um Abschreckung, betont Figens Kollegin Didem.
"Stellen Sie sich vor, sie sind Schüler und wollen spicken. Wenn Sie dabei beobachtet werden, geht das nicht, Sie werden rot. Wir hoffen also, dass schon unsere Anwesenheit einige Fehler verhindern kann. Aber wir haben auch das Recht, mündlich und schriftlich zu protestieren."
Etwa 20 Zuhörer haben sich an diesem Nachmittag in einem kleinen Vortragssaal versammelt. Junge und Alte, Männer und Frauen – nur der überdurchschnittliche hohe Bildungsgrad scheint sie alle zu vereinen. Umut, ein junger IT-Ingenieur, erklärt, warum er gekommen ist.
"Wir brauchen faire Wahlen! Ich selbst habe als Kind in Ankara gelebt und erinnere mich, wie wir am Tag nach den Wahlen immer zerrissene Wahlzettel aus den Mülltonnen sammelten."
"Wir wollen etwas tun"
Als freiwilliger Wahlbeobachter will Umut am 30. März dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert. Möglich macht es das türkische Wahlrecht, das jedem Kandidaten einen Wahlbeobachter pro Urne erlaubt. Die Initiative hat deswegen eine eigene parteilose Kandidatin ins Rennen um das Istanbuler Bürgermeisteramt geschickt, für die natürlich niemand stimmen soll. "Wir sind politisch unabhängig und bevorzugen keine Partei", erklärt Rentnerin Figen. Wahlbetrug habe es in der Türkei immer gegeben. Egal welche Partei gerade die stärkste war.
Und doch sagt die Entstehungsgeschichte der Initiative viel aus über die Hoffnungen ihrer Mitglieder.
"Seit Jahren hören wir von solchen Fälschungen und sagen nur 'Schade, aber was soll man machen'. Erst während der Gezi-Proteste hat uns die Jugend gezeigt: 'Es reicht, wir müssen uns wehren.' Anstatt zu meckern haben wir deswegen beschlossen etwas zu tun."
Und Hausfrau Didem, die inzwischen sämtliche Paragrafen des türkischen Wahlrechts auswendig weiß, fügt hinzu:
"Man muss an einem Punkt anfangen, das hat Gezi uns gezeigt. Ich bin im Dezember zu der Initiative gestoßen und gebe seitdem Workshops für die Freiwilligen. Man muss nicht immer demonstrieren und Plakate schreiben - was zählt, ist der Wille, etwas zu verändern."
Das scheinen inzwischen auch viele andere Istanbuler so zu sehen. 13.000 freiwillige Wahlbeobachter haben sich bereits für den 30. März gemeldet. Ein paar Tausend weitere sollen in den kommenden zwei Wochen noch hinzukommen.