Keiner kann ihm vorwerfen, er hätte sein Wort nicht gehalten: "Wenn ich gewählt werde, werde ich ein anderer Präsident sein", hatte Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf vor gut sechs Monaten angekündigt. Und tatsächlich: Einen solchen Präsidenten hat die Türkei noch nicht gesehen.
"Ob sie es wollen oder nicht. In diesem Land wird es Osmanisch-Unterricht geben", verordnete Erdogan seinen Landsleuten im Dezember. Kurze Zeit später führten zumindest die religiösen Imam-Hatip-Gymnasien die Sprache als Pflichtfach ein.
"Wenn sie euch fragen, wer der beste Lügner in der Türkei ist, dann antwortet, sie sollen den Vorsitzenden der Oppositionspartei fragen", donnerte Erdogan im gleichen Monat vor einem Publikum aus anatolischen Geschäftsleuten.
Die zwölf Präsidenten, die das höchste Amt der türkischen Republik vor Erdogan innehatten, haben ihre Rolle vor allem als repräsentativ verstanden. Tagespolitische Entscheidungen und das tägliche Hickhack zwischen Regierung und Opposition hatten sie als Staatspräsidenten nicht mehr zu interessieren. Auch Erdogan hat den Vorsitz der von ihm mitgegründeten AKP nach seiner Wahl zum Präsidenten aufgegeben. Unparteiisch aber ist er deswegen noch lange nicht, gerade weil er sich in parteipolitische Debatten einmischt. Gerade weil er auch als Präsident fast täglich die Titelseiten der Zeitungen beherrscht. Und gerade weil er nicht tut, als stünde er über den Dingen, feiern seine Anhänger Erdogan als den wohl stärksten Präsidenten, den die Türkei je hatte.
"Ich verstehe nicht, was daran stark sein soll", schnaubt Orhan Bursali, Redakteur bei der säkularen und traditionell Erdogan-kritischen Tageszeitung "Cumhuriyet": "Die Verfassung der Türkei fußt auf einer Gewaltenteilung. Die Aufgaben von Präsident, Premierminister und Verfassungsgericht sind klar voneinander getrennt. Aber in der jetzigen Situation erledigt unser Präsident nicht nur seine eigenen Aufgaben, sondern auch die des Premierministers."
Erdogan leitet regelmäßig den Ministerrat
Und das, ganz ohne es zu verheimlichen. Schon kurz nach seiner Amtsübernahme richtete der frisch gebackene Präsident zwölf sogenannte Managementbüros in seinem Palast in Ankara ein. Zusätzlich zu den 21 regulären Ministerien des Landes kümmern sich Erdogans Leute hier unter seiner alleinigen Weisung um die Geschicke der Türkei. Die Opposition spricht von einem Schattenkabinett. Dass Erdogan zusätzlich auf seinem Recht beharrt, in regelmäßigen Abständen den Ministerrat zu leiten – eigentlich natürlich Aufgabe von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu – passt für Journalist Bursali in dieses Bild:
"Ich denke, es wird so laufen: In diesen Büros werden auf Erdogans persönliche Wünsche hin Programme entwickelt. Diese wird er dann alle zwei Monate dem Ministerrat präsentieren und den Ministern anordnen, sie umzusetzen."
Und Ahmet Davutoglu? Von dem einst so selbstbewussten Außenminister ist keine Rebellion gegen das Ungleichgewicht in Ankara zu erwarten, dürfte er doch gewusst haben, was auf ihn zukommt, als er den Job als Premier von Erdogans Gnaden annahm, den Parteikollege Abdullah Gül wohlwissend abgelehnt hatte.
Erdogans Verhalten ist verfassungsgemäß
Solange also die Opposition es nicht schafft, die Erdogan weiter treu ergebene AKP bei den Parlamentswahlen im Juni zu stoppen, wird es wohl keiner können. Denn ob es Erdogans Gegnern gefällt oder nicht:
"Der aktuelle Zustand widerspricht vielleicht dem Geiste, in dem unsere Verfassung geschrieben wurde, aber er verstößt gegen keinen konkreten Paragrafen", erklärt Ergun Özbudun, Professor für Verfassungsrecht in Istanbul. Das gilt auch für die Leitung des Ministerrates: "Wörtlich heißt es: Wenn nötig, kann der Präsident Kabinettssitzungen leiten. Er kann also immer sagen: Die Verfassung verleiht mir dieses Recht – und ich nutze es."
Und so bleibt am Ende nur ein großes Versprechen, das Erdogan in den ersten fünf Monaten seiner Amtszeit nicht einlösen konnte: Der Präsident aller 77 Millionen Türken ist er bisher nicht geworden.