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Türkei
"Der Westen ist überfordert mit Erdogans Bauernschläue"

Der türkische Präsident Erdogan versuche, den Kurdenkonflikt anzuheizen, um nationalistische Wähler zurückzugewinnen, sagte der Politologe Burak Copur im DLF. Der Staatschef verfolge mit dem Kampf gegen die PKK und den IS eine Doppelstrategie, von der der Westen völlig überrascht worden sei und auf die ohne Konzept reagiert werde.

Burak Copur im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Der türkische Präsident Erdogan und sein nordzyprischer Amtskollege Mustafa Akıncı
    Welche Strategie verfolgt Präsident Erdogan in und mit der Türkei? (AFP/Iakovos Hatzistavrou)
    Recep Tayyip Erdogan sei bereits jetzt in den Wahlkampf eingestiegen, sagte der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen. Erdogan spekuliere auf Neuwahlen, bei denen er nationalistische Wähler, die seine AKP verlassen haben, zurückholen wolle. Aus diesem Grund gehe es ihm darum, den Kurdenkonflikt anzuheizen. Erdogans Forderung, die Immunität der Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP aufzuheben, bedeutet aus Copurs Sicht, dass die Friedensverhandlungen mit der PKK und den Kurden wenig Erfolg haben dürften. Ziel des türkischen Staatschefs sei nicht die Terrormiliz IS zu bekämpfen, sondern einen möglichen Kurdenstaat zu verhindern.
    Erdogan gehe mit seiner Strategie ein sehr hohes Risiko ein, sagte Copur im DLF. Allerdings sei der Westen "überfordert mit der Raffiniertheit von Erdogan". Es gebe "nur wenige Staatschefs, die die Kunst der Manipulation und Blendung so gut beherrschen wie er". Dennoch dürfe sich der Westen nicht für Erdogans Machterhaltungsinteressen benutzen lassen, so der Politologe. "Die Kurden sind die treuesten Verbündeten im Kampf gegen den IS, der Westen darf sie nicht vor den Kopf stoßen." Zudem sei die Türkei mitverantwortlich für die Krise in Syrien und im Nahen Osten; "der Westen macht nun den Bock zum Gärtner, das ist strategisch äußerst unklug."

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Über die Entwicklung in der Türkei habe ich vor der Sendung mit Burak Copur gesprochen, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte der Universität Duisburg-Essen, und ich habe ihn gefragt, ob Erdogan den Friedensprozess mit der PKK infrage stellt oder ob er ihn faktisch schon aufgekündigt hat.
    Burak Copur: Erdogan hat den Friedensprozess im Moment de facto aufgekündigt. Das hat damit zu tun, weil er quasi jetzt in den politischen Wahlkampf schon eingestiegen ist. Er bereitet gerade seine Neuwahlen vor, die vermutlich dann auch im November stattfinden werden. Und das sind sozusagen die Wege dorthin, letztlich. Er hat ja auch deutlich gemacht, dass die Gerichte (Anmerkung der Redaktion Hinweis des Interviewpartners: gemeint ist "das Parlament") jetzt auch die Immunität der HDP-Abgeordneten aufheben soll, und das sind alles keine guten Zeichen und keine guten Aussichten für zukünftige Friedensverhandlungen mit der PKK und den Kurden.
    Schulz: Heißt das denn, knapp gesagt, dass der Friedensprozess oder Frieden mit der PKK Erdogan innenpolitisch schadet?
    Copur: Das wird sich noch zeigen, ob der jetzt abgebrochene Friedensprozess ihm schadet oder nutzt. Man kann ja auch überlegen, warum Erdogan diesen Weg jetzt geht, nämlich, weil er versucht jetzt, den Kurdenkonflikt weiter anzuheizen, um die nationalistischen Wähler, die letztlich die AKP verlassen haben, jetzt wieder versucht zurückzuholen. Und das könnte ein möglicher Schritt sein, warum er jetzt aus diesem Friedensprozess aussteigt.
    Schulz: Aber was spricht dafür, dass er damit auch erfolgreich ist. Denn die HDP, über die Sie gerade schon gesprochen haben, die prokurdische Partei, die hat bei den Wahlen Anfang Juni ja nun überraschend viele Stimmen bekommen, rund 13 Prozent. Warum sollten diese Wähler sich das jetzt anders überlegen?
    "Erdogan beherrscht Manipulation und Blendung"
    Copur: Na ja, die Wähler nicht. Die AKP hat ja in zwei Richtungen verloren, einerseits Wähler verloren an die HDP, das sind kurdische Wähler gewesen, die aber eher traditionell und konservativ sind, und auf der anderen Seite hat er ganz viele Wähler an die MHP, die ultranationalistische Partei verloren. Und da schielt er gerade hin. Er versucht jetzt, diesen sehr tief sitzenden Hass zwischen Türken und der PKK wieder aufleben zu lassen und quasi an die Stimmen der nationalistischen Türken wieder heranzukommen.
    Schulz: Und stürzt sich für dieses Ziel auch in diesen Zweifrontenkrieg. Wie groß ist das Risiko?
    Copur: Das Risiko ist natürlich sehr hoch, und ich habe das Gefühl, dass der Westen von der Doppelstrategie der Türkei, also auf der einen Seite der Kampf mit dem IS und auf der anderen Seite die Bombardierung der PKK, böse überrascht wurde und völlig irritiert im Moment ist. Der Westen ist auch hier völlig konzeptionslos und überfordert mit der Bauernschläue und Raffiniertheit des Staatspräsidenten Erdogans. Ich beschäftige mich ja schon seit über zehn Jahren mit der Person Erdogan, und ich denke, dass es nur wenige Staatschefs gibt, die die Kunst der Manipulation und Blendung so gut beherrschen wie er.
    Schulz: Was soll der Westen tun?
    Copur: Der Westen darf sich jetzt nicht vor den Karren spannen lassen von Erdogans Machterhaltungsinteressen, denn die Kurden sind die treuesten Verbündeten im Kampf gegen den IS. Und der Westen darf aus meiner Sicht jetzt nicht die Kurden so vor den Kopf stoßen, denn die Türkei ist ja auch mitverantwortlich für die Krise in Syrien und im Nahen Osten. Und der Westen macht nun den Bock zum Gärtner. Und das ist aus meiner Sicht nicht rational, und auch strategisch höchst unklug.
    Widersprüchliche Ziele als Problem
    Schulz: Heute hat es ja das NATO-Sondertreffen gegeben. Solidarität hat die NATO erklärt mit Blick auf die Angriffe auf den IS. Schweigen dagegen mit Blick auf die Luftangriffe und die Angriffe, Razzien auch gegen die PKK, weil sich die NATO selbst da ja auch nicht einig ist. Aber an diesem Zustand, dass die NATO sich nicht einig ist, daran wird sich über kurz oder lang ja auch nichts ändern?
    Copur: Ich denke, dass es hier widersprüchliche Ziele gibt zwischen dem Westen und der Türkei. Der Westen will den IS bekämpfen, das ist die Priorität im Moment. Und die Türkei hat Angst vor dem Entstehen eines Kurdenstaates und will Assad stürzen. Und die Ziele des Westens und der Türkei können langfristig in einen starken Widerspruch geraten, denn die Türkei vermengt hier ganz viele Interessen miteinander. Und ich denke, das wird die Anti-IS-Zone, über die jetzt nachgedacht wird mit Blick auf Syrien, eine Täuschung auch der Türkei ist. Denn die Türkei versucht aus meiner Sicht nicht, den IS zu bekämpfen, sondern ist daran interessiert, hier einen möglichen Kurdenstaat zu verhindern.
    Schulz: Es geht um eine Schutzzone, die offenbar jetzt verabredet wurde. Aber erklären Sie uns das noch genauer, warum sollte das eine Gefahr sein?
    Copur: Die Schaffung einer 90 Kilometer breiten und bis zu 40 Kilometer tiefen Sicherheitszone im Norden Syriens soll ja den IS eindämmen. Aber machen wir uns nichts vor: Das wäre letztlich auch eine Besatzungspolitik, und selbst, wenn diese Besatzungspolitik gut gemeint ist mit Blick auf die Eindämmung des IS oder der Flüchtlingshilfen, ist noch nicht abzusehen, wie Syrien und die Unterstützerstaaten von Syrien darauf reagieren werden.
    Doppelstrategie der Türkei hat Westen überrascht
    Schulz: Jetzt hat die Türkei heute bei dem NATO-Sondertreffen darauf verzichtet, um weitere militärische Unterstützung zu bitten. Es ging da vor allem um politische Unterstützung. Wird sich das ändern, oder bleibt das so?
    Copur: Ich denke, dass die politische Unterstützung erst mal anhalten wird, und auch die Chefdiplomaten und Sicherheitsexperten in den europäischen und westlichen Ländern sich die Situation noch mal anschauen, vielleicht auch noch mal in sich gehen. Denn so wie es jetzt aussieht, habe ich das Gefühl, dass der Westen hier völlig überrascht und überfallen worden ist durch diese Doppelstrategie der Türkei und jetzt quasi versucht, auch ihrem Partner nicht in den Rücken zu fallen, zumal die USA ja auch ein ganz starkes Interesse haben, diese Anti-IS-Zone in Nordsyrien aufzubauen.
    Schulz: Der Politikwissenschaftler Burak Copur von der Universität Duisburg-Essen heute Abend im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.