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Türkei
Die Flucht der Start-ups

Vier Wochen nach dem Putschversuch droht der Türkei unter Präsident Erdogan der sogenannte Brain Drain: Kluge Köpfe aus Wirtschaft und Wissenschaft verlassen zunehmend das Land. Was jetzt noch boomt, sind Wochenendseminare, die das Auswandern erleichtern sollen.

Von Luise Sammann |
    Ein Mann mit Anzug und Aktenkoffer
    Über kurz oder lang, da sind sich Experten sicher, wird sich das Fehlen der jungen Elite in der Türkei bemerkbar machen. (Ole Spata / dpa)
    Vier Wochen sind seit dem Putschversuch in der Türkei vergangen. Vier Wochen, in denen der von Präsident Erdogan verhängte Ausnahmezustand für die meisten Türken zum Normalzustand geworden ist. Selbst an der Istanbuler Börse – wo man zunächst den größten Kursrutsch der Geschichte verzeichnet hatte – scheint die Lage wieder einigermaßen unter Kontrolle.
    Und dennoch: Die Ereignisse der letzten Wochen haben Spuren hinterlassen. Brain Drain heißt das Stichwort dieser Tage.
    "Von meinen Freunden haben 50 bis 60 Prozent die Türkei schon verlassen", sagt Ozan Dagdeviren, der in einem Istanbuler Café über seinem Laptop sitzt. Als die Unzufriedenheit unter gut ausgebildeten, regierungskritischen Türken wuchs, hatte Dagdeviren eine Idee: Gemeinsam mit einer Partnerin bietet er Wochenendseminare für auswanderungswillige Türken an. Bewerbungsabläufe, Anforderungen, Behördengänge ...
    "Zu uns kommen Leute, die von ihrer Qualifikation her genauso in Frankreich, Italien oder Kanada Jobs finden könnten. Vor allem aber sind es Leute, die selbst bestimmen wollen, wie sie leben. Die abends ausgehen wollen, ein Bier trinken oder kurze Röcke tragen. Hier in der Türkei haben sie immer mehr das Gefühl, dass ihr Lebensstil nicht mehr richtig akzeptiert ist."
    Stolze 400 türkische Lira, etwa 130 Euro, zahlen die Seminarteilnehmer für Tipps und Tricks für die Bewerbung im Ausland. Zahlungskräftige Türken, die weg wollen, gibt es in diesen Tagen genug.
    "Ich habe sechs Jahre in Frankreich Recht studiert", sagt Alp, ein junger Wirtschaftsanwalt. "Ich hätte dort bleiben und arbeiten können, aber ich wollte zurück in die Türkei. In diesen Tagen frage ich mich täglich, ob ich einen Fehler gemacht habe."
    Demir – studierter IT-Ingenieur, stimmt ihm zu:
    "Es sind so viele Dinge passiert in der letzten Zeit. Das ist nicht mehr das Land, in dem ich leben oder Kinder großziehen will. Ich habe mehrere Bewerbungen in Europa laufen. Sobald ich kann, ziehe ich um. Das ist alles, was ich im Moment will: Weg hier."
    Allein mit Geld sind junge Gründer nicht mehr zu locken
    Es ist noch gar nicht lange her, da galt die Türkei als Boomland. Der Werbeslogan "Turkey – discover the Potencial" war Programm. Hunderte Universitäten schossen im ganzen Land aus dem Boden, das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich binnen weniger Jahre und die Zeit, in der Türken sich auf Arbeitssuche in Europa machen mussten, schien ein für alle Mal vorbei. Auch der auf Online-Start-ups spezialisierte Jungunternehmer Birol Kabakoglu zog im Jahr 2009 nicht zufällig von Köln nach Istanbul.
    "Damals war auch das erste Investment von Ebay in der Türkei. Das war natürlich lockend, hat man direkt gemerkt: Die Population geht hoch, Kreditkartenpenetration - weil 55 Millionen Kreditkarten, die jetzt auf dem Markt sind - Jugendliche, die nutzen immer mehr Internet ... Das war für mich persönlich der richtige Zeitpunkt."
    Kabakoglu gründete seitdem vier Unternehmen in Istanbul. Überall im Land taten es ihm junge, risikofreudige Türken gleich. Die türkische Start-up-Szene war geboren und entwickelte sich schnell. Noch im letzten Jahr ging der türkische Onlinelieferservice "Yemeksepeti" – übersetzt Einkaufs- oder Essenskorb – für rekordverdächtige 589 Millionen Dollar an die Berliner Delivery Hero Holding. Auch die türkische Regierung erkannte das Potenzial ihrer jungen, internetaffinen Bevölkerung. Tech-Parks, Gründerförderungen und Steuererleichterungen wurden geschaffen.
    Doch allein mit Geld, das wird in diesen Tagen klar, sind die jungen Gründer nicht mehr zu locken. Er habe inzwischen mehr Freunde in San Francisco als in Istanbul, schrieb Umut Gökbayrak, Technikchef der Zeitung "Hürriyet" und selbst Start-up-Gründer vor wenigen Tagen. Jede Woche verabschiedeten sich ein bis zwei hoch qualifizierte Türken aus seinem Bekanntenkreis.
    Gut für Leute wie Ozan Dagdeviren und Sinem Yetimoglu, die sich seit dem Putschversuch kaum noch vor Anmeldungen für ihre Wochenendseminaren für auswanderungswillige Türken retten können. Das Geschäft ließe sich weiter ausbauen, mit Online-Sitzungen, verknüpften Bewerbungsportalen usw. Ein Start-up, wie es im Buche steht. Doch Dagdeviren und seine Geschäftspartnerin Yetimoglu – beide Absolventen der renommiertesten Universität der Türkei – haben längst andere Pläne. Sie wollen selbst weg:
    "Ich bin im April 2013 nach mehreren Jahren in Berlin in die Türkei zurückgekehrt. Aus heutiger Sicht war das definitiv ein Fehler. Jetzt will ich weg hier, irgendwohin, wo die Zukunft weniger unsicher ist und ich entspannter leben kann, auch als Frau."
    Statistiken zum türkischen Brain Drain gibt es keine. Wo keine Zahl, da kein Problem, scheint die türkische Regierung zu denken. Über kurz oder lang jedoch, da sind sich Experten sicher, wird sich das Fehlen der jungen Elite bemerkbar machen. Sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich.