Metin Ergün aus Istanbul bittet zum Interview auf den Balkon. "Wir ziehen bald nach Deutschland", entschuldigt er das Chaos in seiner Wohnung – die Kisten, Koffer und Tüten, die überall herumstehen. Dann steigen dem Zweimetermann die Tränen in die Augen.
"Ich liebe mein Land und seine Leute", so der 41-Jährige, "und ich hätte mir nie vorstellen können es zu verlassen. Als vor Jahren viele gebildete Türken anfingen auszuwandern, gehörte ich zu denen, die lieber hier investierten, um unser Land zu unterstützen."
Und das, obwohl er überall hätte hingehen können. Als professioneller Basketballer bekam er damals Angebote aus allen Ecken Europas und Amerikas. Metin lehnte sie alle voller Stolz ab. "Ein Stein wiegt dort am meisten, wo er herkommt", sagen die Türken.
"Überall herrschen heute Hass und Misstrauen"
"Auch damals gab es Spannungen hier: der Kurdenkonflikt, der Terror. Aber wir wollten trotzdem hier leben und hier unsere Kinder großziehen."
"Wir wollten…" Metin verstummt für einen Moment.
Der Ex-Sportler mit dem freundlichen Blick ist kein politischer Mensch. Wer in Ankara die Macht hatte, war ihm lange Zeit egal, solange seine kleine Sportschule im Zentrum Istanbuls florierte, die Straßen immer besser, die Häuser immer moderner wurden. Und auch jetzt ist es nicht die politische Lage, sind es nicht die Verhaftungen und Entlassungen der letzten Monate, die ihn und seine Frau mit den beiden Kindern ins Ausland treiben.
"Die Politiker werden eines Tages verschwinden. Aber die Menschen bleiben. Und das macht mir Angst. Überall in der türkischen Gesellschaft herrschen heute Hass und Misstrauen. Ich selbst komme aus einer sehr armen Familie. Dass ich den Aufstieg geschafft habe, habe ich Leuten zu verdanken, die mich auf der Straße an die Hand genommen und geführt haben. Genau das wünsche ich mir auch für meine Kinder. Dass sie anderen Menschen vertrauen können. Auch Fremden. Aber heute stoßen Sie auf Wut und Hass, sobald sie Ihren engsten Kreis verlassen. Auf Leute, die nicht vor Gewalt zurückschrecken, wenn Sie zufällig politisch auf der falschen Seite stehen."
Die Gesellschaft ist polarisiert
Es ist die tiefe soziale Spaltung im Land, die Metin zunehmend Angst macht. Und die daraus resultierende Aggression, die immer öfter in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Schulhöfen oder am Arbeitsplatz sichtbar wird, weil ein Rock zu kurz, eine Bemerkung zu kritisch oder die Musik zu laut war.
"Die extreme Polarisierung sorgt dafür, dass die Menschen inzwischen alle Themen danach beurteilen, welchem politischen Lager sie angehören. Es geht nicht mehr um richtig oder falsch in der Sache, sondern um ein Lagerdenken, das unsere ganze Identität bestimmt."
So Emre Erdogan, Politikwissenschaftler von der renommierten Bilgi-Universität in Istanbul. Beobachter wie er warnen vor dem sozialen Sprengstoff, der die türkische Gesellschaft nach Monaten und Jahren voller Ausnahmezustand, Terror und Dauerwahlkampf zunehmend prägt.
"Selbst ganz normale Menschen sind durch und durch politisiert"
"Vielleicht gehen die Leute nicht sofort mit Kalaschnikows aufeinander los. Aber gucken Sie sich zum Beispiel die Lynchstimmung in den sozialen Medien an. Oder auch einfach nur, wie zwei Fremde sich auf der Straße begegnen. Für unsere Arbeit machen wir häufig Studien mit Normalbürgern mit unterschiedlichen politischen Einstellungen. Immer öfter müssen wir sie inzwischen nach einigen Minuten räumlich trennen, damit sie sich nicht an die Gurgel gehen. Selbst ganz normale Menschen sind durch und durch politisiert!"
Genau das ist es, was Ex-Basketballer Metin und den vielen anderen Türken Angst macht, die in diesen Tagen nach Wegen suchen, ihre Heimat zu verlassen. Von Politik und Regierungskritik kann man sich fernhalten, die täglichen Nachrichten kann man ganz einfach abschalten - so wie immer mehr Türken es übrigens längst tun. Der Kontakt zu anderen Menschen jedoch lässt sich nicht völlig unterbinden.
"Mir geht es jetzt vor allem um meine Kinder. Ich will, dass sie in einer gesünderen Gesellschaft aufwachsen als dieser hier. Natürlich werden wir viele Dinge vermissen. Unsere Verwandten, Freunde, die Kultur. Aber im Vergleich zu dem, was wir in Deutschland zu finden hoffen, wiegt das alles nicht mehr schwer genug."