Es ist so, wie es immer war: Nur mit der Pferdekutsche können Besucher das griechisch-orthodoxe Priesterseminar Chalki erreichen. Majestätisch thront es über den Dächern der autofreien Insel Heybeliada. Die Küste Istanbuls, mit ihrer Skyline aus Minaretten und Wolkenkratzern, liegt eine halbe Stunde entfernt.
Ein paar sanfte Peitschenhiebe, eine kurvige Straße durch dichtes Grün, dann liegt es da: das einzige orthodoxe Priesterseminar der Türkei. Ein prächtiges Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert, erbaut mit Erlaubnis des damaligen Sultans, umgeben von gepflegten Gärten und historischen Mauern.
Metropolit Elpidophoros, Abt des angeschlossenen Dreifaltigkeitsklosters, führt stolz herum.
"Dies hier ist die alte Schulglocke. Und dort war die Kantine, hier die Klassenräume, der Aufseher, die Studierzimmer. Und dieses hier ist das Lehrerzimmer. Sie sehen: Alles ist bereit für den Schulbetrieb, alles wartet geduldig."
Elpidophoros - im langen dunklen Gewand und mit grauem Vollbart - streicht durch die leeren Flure. Einsam hallen seine Schritte von den Wänden wider. 42 Jahre ist es her, dass der letzte Schüler an einem der hölzernen Pulte auf Chalki saß. Die türkische Militärregierung war es, die damals, 1971, über Nacht die Schließung aller privaten Universitäten im Land veranlasste. Chalki war nur ein Opfer unter vielen.
"Wer hier studiert, gewinnt einen weiteren Horizont"
"Ich selbst war damals erst 10 Jahre alt, ich konnte hier also nicht mehr studieren, sondern musste dafür nach Griechenland gehen", erklärt der in Istanbul geborene und aufgewachsene Elpidophoros. "Aber genau das wollen wir nicht mehr! Denn die theologischen Fakultäten außerhalb Istanbuls haben nicht die gleiche Mentalität. Ein junger Mann, der hier studiert, gewinnt einen weiteren Horizont, weil er gleichzeitig mit anderen Religionen lebt. Er lernt hier in Istanbul nicht nur im Unterricht, was der Islam ist, sondern auch im täglichen Leben."
Es war diese Mischung aus Toleranz und erstklassiger Lehre, die Chalki einst zur wichtigsten Schule der gesamten orthodoxen Welt machte. Bartholomäus I., griechisch-orthodoxer Ökumenischer Patriarch mit Sitz in Istanbul, ist nur einer ihrer berühmten Absolventen. Doch nicht nur griechische, auch russisch-orthodoxe, syrische und bulgarische Studenten lernten hier und trugen den Geist von Chalki in ihre späteren Gemeinden.
"Die Absolventen dieser Schule haben zu einer engeren Beziehung zwischen den unterschiedlichen Kirchen beigetragen. Chalki war wie eine Brücke. Wenn jemand nach dem Studium hier in seine Heimat zurückkehrte, war er immer ein Bindeglied zu unserem Patriarchen und zur griechisch-orthodoxen Welt. Das machte diese Schule so wichtig."
Der Abt öffnet eine weitere Tür, betritt das einstige Lehrerzimmer. Große, weiße Tücher liegen über den Möbeln. Kein Staubkorn tanzt im fahlen Winterlicht, das durch die frisch geputzten Fenster hineinfällt. Elpidophoros lächelt. 14 Angestellte halten das historische Gebäude auch 42 Jahre nach seiner Schließung rund um die Uhr in Schuss.
"Als würden morgen die Schüler kommen"
"Wir putzen hier jeden Tag und bereiten alles so vor, als würden morgen die Schüler kommen. Alles ist so, als wäre das Seminar in Betrieb. Jeder soll sehen: Wir haben diesen Ort nicht aufgegeben. Und auch nicht die Hoffnung auf eine Wiedereröffnung. Wenn die Regierung die Erlaubnis gibt, können wir am nächsten Montag mit dem Unterricht beginnen."
Doch die Sauberkeit hat nicht nur Symbolcharakter: Ein türkisches Gesetz lässt die Besitztümer von Minderheiten entschädigungslos in Staatsbesitz übergehen, wenn sie verlassen werden. Zahlreiche Kirchen in Anatolien, die von ihren schrumpfenden Gemeinden nicht mehr unterhalten werden konnten, hat dieses Schicksal bereits ereilt.
Es war ausgerechnet der religiös-konservative Tayyip Erdogan, der den Christen in der Türkei mit seinem Kurs Richtung Europa Hoffnungen auf eine Wende machte. Vor Jahrzehnten zwangsverstaatlichte Stiftungseigentümer wurden zurückgegeben, Kirchen wiedereröffnet, ein neuer Ton angeschlagen. Nur Chalki blieb geschlossen.
"Es macht uns traurig, zu sehen, wie all das Potenzial dieser Schule ungenutzt bleibt. Und es enttäuscht uns, so wie beim diesjährigen Demokratiepaket. Seit Jahren macht man uns Hoffnung, die Hoffnung steigt und steigt - um dann im allerletzten Moment doch wieder enttäuscht zu werden."
Zuerst solle die griechische Regierung in Athen zwei Moscheen bauen, forderte Ministerpräsident Erdogan im Oktober, als die Enttäuschung über das groß angekündigte Demokratiepaket noch frisch war. Im Gegenzug könne man über das Priesterseminar verhandeln. Chalki, das ist inzwischen klar, ist eine Karte in einem Spiel. Elpidophoros schüttelt verzweifelt den Kopf.
Ein Schatz, der ungenutzt bleibt
"Sie sehen uns offensichtlich nicht als türkische Staatsbürger an. Sie behandeln mich, als wäre ich der Konsul von Griechenland: Wenn ihr Griechen dies und das für uns tut, dann tun wir jenes für euch. Aber ich bin Türke! Ich bin weder Gastarbeiter hier noch Einwanderer, noch Tourist. Im Gegenteil: Wir sind vielleicht die ältesten Einwohner dieser Stadt. Wir waren hier, bevor alle anderen kamen. Ich habe meinen Militärdienst hier absolviert, ich zahle meine Steuern hier. Ich tue alles, was ein türkischer Staatsbürger tut. Und als solcher habe ich gewisse Erwartungen."
Elpidophoros verlässt das Lehrerzimmer und steigt hinab in die historische Bibliothek des Priesterseminars - mit mehr als 100.000 Werken eine der ältesten und kostbarsten der gesamten christlichen Welt. Die Türkei könnte stolz darauf sein, einen solchen Schatz zu beherbergen. Stattdessen verstaubt er beinahe ungenutzt.
Ob es doch Anzeichen für einen Sinneswandel bei der türkischen Regierung gibt? Der Abt zuckt mit den Schultern.
"Diese Schule ist die Lunge unseres Patriarchats, es atmet über diese Schule. Und deswegen werden wir die Hoffnung nicht aufgeben. Auch wenn noch vierzig Jahre vergehen und danach noch mal vierzig Jahre. Ich werde dann längst weg sein, aber mein Nachfolger wird meine Aufgabe übernehmen."