Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt Yasar Aydin, Türkeiexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Aydin!
Yasar Aydin: Guten Morgen!
Armbrüster: Herr Aydin, wieso bricht dieser Konflikt in der Türkei ausgerechnet jetzt aus?
Aydin: Zunächst einmal muss man feststellen, dass wir tatsächlich mit Korruption zu tun haben. Die Korruptionsvorwürfe sind ernst zu nehmen, sonst hätte der Ministerpräsident Erdogan drei seiner Minister nicht zum Rücktritt gefordert. Das muss man klarstellen. Aber auf der anderen Seite darf man auch nicht vergessen, dass wir es in der Türkei mit einem Machtkampf zu tun haben, die zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung, die einst Verbündete waren. Man darf nicht vergessen, dass diese Gülen-Bewegung möglicherweise nicht gewagt hätte, die Regierung herauszufordern, wenn Erdogans Position im In- und Ausland nicht geschwächt wäre. Die Position von Erdogan ist im Inland wegen der Gezi-Proteste, wegen seiner Haltung, wegen seiner unnachgiebigen Haltung bei den Gezi-Protesten und im Ausland wegen seiner Sprunghaftigkeit, wegen seiner Haltung gegenüber Israel, gegenüber USA und so weiter und so fort massiv geschwächt, und man darf auch nicht vergessen, dass Erdogan ein viertes Mal nicht kandidieren darf. Er müsste den Parteistatut ändern und damit würde er aber seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Das ist ein Grund, warum die Gülen-Bewegung jetzt wagt, die AKP offen herauszufordern.
Armbrüster: Was sind denn die Ziele der Gülen-Bewegung in dieser ganzen Angelegenheit?
Aydin: Ich vermute, dass es der Gülen-Bewegung nicht darum geht, die AKP zu schwächen. Ist die AKP geschwächt, dann wird sicherlich auch die Gülen-Bewegung geschwächt sein, das wollen die, vermute ich, nicht. Was die wollen, ist, dass sie versuchen, anstatt Erdogan jemand anderen an die Spitze der AKP zu bringen, weil Erdogan nicht mehr funktional ist, weil Erdogan im Ausland und im Inland dem Ansehen des Landes geschädigt hat. Es gibt in der Außenpolitik kaum noch Erfolge, die Probleme mit den USA, mit den Nachbarstaaten, viele sehen ein in der AKP, aber auch innerhalb der Gülen-Bewegung, dass es so nicht weitergehen kann, dass das nicht für die Türkei möglich ist, mit Erdogan an der Spitze wieder im Ausland Ansehen zu gewinnen, wieder die Softpower zu gewinnen, die die Türkei vor ein paar Jahren noch hatte.
Armbrüster: Erdogan ist ja spätestens seit dem vergangenen Sommer in Verruf geraten, zumindest innerhalb der EU, mit seinem harten Durchgreifen gegen Demonstranten und gegen Reformbefürworter in der Türkei. Ist Fethullah Gülen da jemand, der sozusagen liberaler denkt, der das Land wieder und die Regierung wieder in eine liberalere Richtung bringen will?
Beide sind dem Neoliberalismus verpflichtet
Aydin: Man müsste zunächst einmal feststellen, dass beide dem Neoliberalismus verpflichtet sind, beide für eine Integration der Türkei in den Weltmarkt sind. Die Gülen-Bewegung wird getragen von Unternehmern, hauptsächlich von Unternehmern, die haben auch in der Türkei einen Unternehmensverband Tuskon. Der Gülen-Bewegung geht es um eine Versittlichung der Gesellschaft, also es handelt sich um eine Bottom-up-Bewegung. Und Erdogan geht es darum, die Gesellschaft von oben nach unten, also Top-down, nach konservativen Leitbildern umzugestalten. Also wir haben es hier mit zwei verschiedenen Konzepten zu tun. Die Gülen-Bewegung ist auch oder hat sich auch in den letzten Zeiten in den Fragen des interreligiösen Dialogs hervorgetan. Sie haben eine liberalere Auffassung gegenüber dem Westen, gegenüber den USA, gegenüber Israel. Man darf nicht vergessen, dass bei den Mavi-Marmara-Ereignissen Fethullah Gülen die AKP kritisiert hat, weil die AKP nicht verhindert hat, weil die Regierung diese Flottille nicht verhindert hat. Das hat sie kritisiert. Also die Gülen-Bewegung hat eine deutlich pro-westliche, pro-US-amerikanische Position.
Armbrüster: Sie haben jetzt anfänglich gesagt, dass an diesen Korruptionsvorwürfen, die da zurzeit gegen die Regierung Erdogan erhoben werden, dass da tatsächlich etwas dran ist, dass die ernst zu nehmen sind. Aber viele Menschen fragen sich, auch wenn da was dran ist – wurden diese Vorwürfe und die Verhaftungen, die darauf gefolgt sind, wurden die tatsächlich von der Gülen-Bewegung gesteuert?
Aydin: Das ist schwer zu sagen. Man sagt dem Staatsanwalt Zekeriya Öz nach, dass er mit der Gülen-Bewegung sympathisiert. Aber wir haben keine handfesten Beweise. Aber man darf das schon vermuten. Aber das heißt nicht, dass das ein Konstrukt ist, also da, das muss man ernst nehmen, weil wir auch wissen, aus der Vergangenheit wissen, dass in der Türkei die Vergabe von Staatsaufträgen, Bauprojekten nicht immer transparent waren, und man darf auch nicht vergessen, dass unter der AKP-Regierung es mehrmals zu Veränderungen des Ausschreibungsgesetzes gekommen ist. Also die AKP-Regierung hat mehrmals die Regelungen über die Ausschreibungen für Bauprojekte und Staatsaufträge verändert. Also das deutet darauf hin, dass das nicht transparent ist und das deutet auch darauf hin, dass da das ernst zu nehmen ist. Man darf auch nicht vergessen, dass der Sohn von Erdogan zum großen Reichtum gebracht hat, Erdogan auch zum großen Reichtum gebracht hat, obwohl er aus bescheidenen Verhältnissen kommt.
AKP ist nach wie vor die stärkste Kraft
Armbrüster: Ganz zum Schluss, Herr Aydin, eine letzte Frage mit Bitte um eine kurze Antwort: Ist das, was wir hier gerade in der Türkei erleben, ist das das Ende der politischen Ära Erdogan?
Aydin: Das ist schwer zu sagen. Die AKP ist die stärkste, nach wie vor die stärkste Kraft in der Türkei. Sie wird auch die stärkste Kraft in der Türkei bleiben, trotz Stimmeneinbußen, die man vermuten kann. Es gibt Anzeichen dafür, dass Erdogan Stimmeinbußen hinnehmen wird. Aber die wird die stärkste Kraft bleiben. Was man aber prognostizieren kann, ist, dass es sehr schwierig wird für Erdogan, sich zum Staatspräsidenten wählen zu lassen. Das war noch vor paar Monaten anders. Damals wähnte man es sicher, aber jetzt ist das nicht mehr sicher. Und es könnte sehr schwierig sein für Erdogan auch, zum Staatspräsidenten gewählt zu werden. Ich vermute auch, dass innerhalb der AKP über eine Zeit nach Erdogan diskutiert wird, und man darf auch nicht vergessen, dass die Gesundheit von Erdogan nicht mehr so ist, wie sie mal war.
Armbrüster: Yasar Aydin war das, Türkeiexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Vielen Dank für das Interview, Herr Aydin und einen schönen Tag noch!
Aydin: Sehr gerne, Ihnen auch!
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