Archiv

Türkei EU
Ankara verspricht Reformen

"Viel Symbolik", sagt der Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Günter Seufert. Was die türkische Reformkommission nun aus dem Versprechen des türkischen Außenministers mache, werde "sehr spannend zu beobachten". Eine Türkei im Krisenmodus sei auch für Deutschland gefährlich.

Günter Seufert im Gespräch mit Ursula Welter |
    Zwischen der türkischen und der europäischen Flagge lächelt der Außenminister der Türkei Mevluet Cavusoglu, aufgenommen bei einem Besuch in der Villa Borsig in Berlin am 06.03.2018.
    Der Außenminister der Türkei Mevluet Cavusoglu bei einem Besuch in der Villa Borsig im März 2018 in Berlin (imago / Florian Gärtner)
    Welter: Wir haben Anfang dieser Woche in Paris einen französischen Präsidenten gehört, der ziemlich deutliche Warnungen an die türkische Adresse geschickt hat. Ankara dürfe seine Politik in Syrien und gegen die Kurden nicht zu weit treiben, hat Macron gesagt, und er hat die Türkei als "Strategischen Partner" bezeichnet, in einem Atemzug mit Russland. Und das klang in den Ohren Ankaras, als sei die Beitrittsperspektive für die EU dahin. Ist das so, ist die Tür von Seiten des Westen zugeschlagen ?
    Seufert: Das kann man so nicht sagen. Auf der einen Seite hat Macron nichts Neues gesagt, weil, er schon dasselbe im Januar dieses Jahres gesagt. Und damals hat die Türkei nicht reagiert, weil sie damals noch nicht so in einer Wirtschaftskrise steckte und weil sie damals noch nicht so ernsthaft gefährdete Beziehungen mit den USA hatte. Was jetzt den Westen insgesamt betrifft, müssen wir uns ja in Erinnerung rufen, dass nach wie vor der Beitrittsprozess im Augenblick zwar nicht weitergeht, aber offiziell auch nicht beendet ist. Die Staatschefs der europäischen Mitgliedsländer haben es abgelehnt, den Beitrittsprozess mit der Türkei offiziell auszusetzen oder gar zu beenden
    Türkische Reformkommission tagt wieder
    Welter: Sie haben gesagt, Ankara hat nicht reagiert, als Macron das erste mal Warnungen schickte. Diesmal hat Ankara reagiert. Gestern hat der türkische Außenminister einen Neustart der Gespräche über einen Ausbau der Zollunion gefordert, und er hat gesagt, die Türkei wolle mit politischen Reformen die Annäherung an die EU wieder in Gang bringen. Da fielen die Vokabeln Justiz, Grundrechte, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit - da wurde also eine Hand ausgestreckt. Warum hat Ankara diesmal reagiert, und warum beim letzten mal nicht?
    Seufert: Ganz offensichtlich, weil man sich in Ankara erinnert hat, dass die EU wahrscheinlich doch der verlässlichere Partner ist auf der einen Seite, und natürlich dass die EU nach wie vor der Hauptrettungsanker für die türkische Exportwirtschaft ist. Weil viele Märkte, die sich Ankara in den 2010er Jahren erobert hat, im Nahen Osten, im Kaukasus, sind über die dortigen Entwicklungen einfach weggebrochen, weggefallen. Und wenn jetzt noch Streit und Sanktionen mit den USA hinzukommen, die immerhin der viertgrößte Exportmarkt der Türkei sind, dann ist man um so stärker auf Europa angewiesen. Und um die Stimmung in Europa etwas zu bessern, sagt man jetzt, man werde wieder anfangen innenpolitische Reformen durchzuführen.
    Tatsächlich wird sich die zentrale Reformkommission aus Außenminister, Innenminister und Justizminister nach drei Jahren das erste mal wieder zusammen setzen, und man wird überlegen, welche Reformen man angehen will. Die Frage ist nur, wie ernsthaft diese Reformen sind und wie sehr sie eigentlich nur symbolische Schritte sein werden.
    "Sehr spannend, was aus der Türkei zu hören sein wird"
    Welter: Was glauben Sie, nur Symbolik?
    Seufert: Ich befürchte, dass es sehr viel Symbolik sein wird, denn mit der Einführung des Präsidialsystems, dass Herrn Erdogan fast unbeschränkte Macht gibt, ist natürlich die Schaffung einer unabhängigen Justiz und die Wiederherstellung von Gewaltenteilung, Grundforderungen der politischen Kriterien von Kopenhagen, eigentlich unmöglich. Von daher ist es sehr spannend, was wir in den nächsten Tagen aus der Türkei hören werden.
    Welter: Sie sagen, Günter Seufert, dass der Druck, die Türkei wieder näher zur EU zu bringen, auch entstanden ist, weil der Handelskonflikt der Türkei mit den USA so heftig tobt. Auf der anderen Seite hat sich Ankara immer weiter an die Seite Moskaus begeben und wiederum - das ist die dritte Variante - läuft es, was die die türkisch-russischen Interessen gerade betrifft, in Syrien auseinander. Ist das Bild, ist die Taktik also, das wechselnder Partnerschaften für die Türkei?
    Balanceakt der türkischen Außenpolitik
    Seufert: Ganz sicher. Die Türkei hat, das ist ja interessant, hat Anfang der 2010er Jahre ja offen propagiert, dass sie sich nicht mehr ausschließlich auf den Westen ausrichten will, sondern dass sie eigentlich gleichwertige Beziehungen zu den USA, zu Russland, zu den Ländern des Nahen Osten und zur EU haben will. Man hat das damals aus einer Position der Stärke heraus formuliert. Heute sieht das eher umgekehrt aus, dass die Türkei eigentlich mit all diesen Partnern USA, Russland, Naher Osten, Europa äußerst konfliktträchtige Beziehungen hat. Und statt jetzt aus eigener Kraft Beziehungen mit vielen Staaten gestalten zu können, ist die Türkei heute eher in einem Balanceakt, wo sie die Schwächen und Konflikte der Partner untereinander ausnutzen kann, um selbst überhaupt noch Bewegungsspielraum in ihrer Außenpolitik zu haben.
    Welter: Sie haben schon vor geraumer Zeit gemahnt, man müsse aufpassen, dass die Türkei dem westlichen Lager nicht abhanden komme - dass die Entfremdung nicht voranschreite - wo stehen wir da heute - auch aus Sicht der Europäischen Union?
    Gefahr für Deutschland
    Seufert: Das ist natürlich ein ganz wichtiger Aspekt: Auf der einen Seite müssen wir sagen, dass wahrscheinlich die Reformangebote und -schritte der Türkei zur Neubelebung der Beitrittsperspektive wahrscheinlich vor allen Dingen symbolisch sein werden, andererseits wissen wir aber auch, dass die Gefahr, dass die Türkei endgültig abdriftet - sei es in ein Militärbündnis mit Moskau, oder sei es, dass das Land wie alle anderen Länder im Nahen Osten sich weiter innenpolitisch destabilisiert.
    Eine Gefahr ist auch für uns, nicht nur wegen der Flüchtlingsfrage, sondern auch wegen der Folgen einer reifen wirtschaftspolitischen Krise in der Türkei und wegen der Folgen einer innenpolitischen Destabilisierung der Türkei, die ihrerseits wieder nach Deutschland überschwappen wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.