Ein Hinterhofbüro in einem Vorort von Istanbul. Eigentlich müsste es hier nach Aufbruch aussehen. Schließlich hat hier die Wochenzeitung mit dem verheißungsvollen Namen "AB Gazetesi", zu deutsch: "EU-Zeitung" ihren Sitz. Doch von Aufbruch keine Spur: Die beiden einzigen Redakteure Ziya Kaya und Kiymet Taylan sitzen im Halbdunkeln vor Röhrenmonitoren, gegen die Kälte tragen sie Winterjacken. Eine Heizung gibt es in dem Zimmer nicht. Seit sieben Jahren schreiben die beiden über den Reformbedarf ihres Landes - ob in der Bildung oder bei der Erdbebenvorsorge. Nicht alles ist selbst recherchiert. Viele Artikel sind anderen Zeitungen entnommen. Die Europa-Begeisterung ihrer Landsleute, klagt Redakteurin Taylan, reiche bloß für eine Auflage von 25.000 Exemplaren.
"In der EU gibt es immer noch viele Vorbehalte gegen die Türkei. Und umgekehrt gibt es bei uns viele Vorurteile über die EU. Die Kommunikation ist unterbrochen, es gibt kein Kennenlernen. Beide Seiten sind sich fremd geworden."
Dass sich Europa und die Türkei nicht mehr verstehen, liegt auch am starken Mann der Türkei: Tayyip Erdogan liefert sich seit Wochen einen erbitterten Machtkampf mit seinem ehemaligen Weggefährten, dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Landesweit ließ Erdogan über 1000 Polizeioffiziere versetzen oder degradieren. Dutzende Staatsanwälte und Richter wurden ebenfalls geschasst. Die regierende AKP brachte einen Gesetzentwurf ein, der Ankara fast uneingeschränkte Gewalt bei der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten geben soll. Bislang werden zentrale Stellen im Rechtssystem der Türkei vom sogenannten "Hohen Rat von Richtern und Staatsanwälten" besetzt. Nun soll ein Vertreter des Justizministeriums dem Gremium vorstehen.
In der Istanbuler Anwaltskammer trifft sich einmal im Monat eine Arbeitsgruppe zum EU-Recht. Es ist die letzte ihrer Art in der Türkei. Die Kammern in Ankara und Izmir haben ihre EU-Recht-AGs längst aufgelöst.
Eigentlich will die Co-Vorsitzende der Istanbuler Arbeitsgruppe, die Anwältin Sevgi Çelik mit ihren Kollegen die Angleichung an EU-Rechtsnormen überprüfen. Doch nun muss sie mit ansehen, wie sich die Türkei von Europa immer weiter entfernt. Völlig unabhängig sei die Justiz in der Türkei zu keiner Zeit gewesen, gibt Çelik zu:
"Anders als in Europa fehlt der Türkei eine lange Rechtstradition. Darum sind wir anfällig für Manipulationen. Mir kommt es vor, als seien wir seit Gründung der modernen Türkei vor 85 Jahren immer noch dabei uns dem westlichen Rechtsverständnis anzupassen."
Opposition und führende Juristen stufen den Gesetzentwurf der Regierung als verfassungswidrig ein. Cem Murat Sofuoglu von der Istanbuler Anwaltskammer sieht darum noch eine letzte Chance, den Entwurf zu verhindern:
"Unsere Hoffnung richtet sich auf Staatspräsident Gül. Ich bezweifle, dass er ein solches Gesetz unterschreiben wird. Denn dann könnten Staatsanwälte und Richter nicht einmal ins Ausland reisen ohne Genehmigung des Justizministeriums."
Präsident Gül hatte sich in den vergangenen Wochen immer wieder mäßigend geäußert und die Bedeutung der Herrschaft des Rechts betont. Aydin Engin, Chefredakteur des Nachrichtenportals t24, glaubt aber nicht, dass Gül Erdogan offen zu einem Machtkampf herausfordern würde – etwa indem er im Herbst erneut für das Präsidentenamt kandidieren und Erdogan damit den Weg ins höchste Staatsamt verbauen würde. Gefährlich könnte dem Regierungschef dagegen eine andere Entwicklung werden:
"Die türkische Lira fällt gegen Dollar und Euro derzeit kräftig ab - alles deutet auf eine Wirtschaftskrise hin. Die Opfer dieses innenpolitischen Machtkampfes heißen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und am Ende auch der Wohlstand der Türkei. Am 30. März finden Kommunalwahlen statt. Aber die sind lägst zu einem Test für Erdogan geworden. Fällt seine AKP deutlich ab, muss sich die Partei nach jemand anderem umsehen."