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Türkei-Experte Schulz zum Anschlag in Istanbul
"Ich würde momentan nicht in die Türkei fahren"

Der Anschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk deutet nach Meinung des Politikwissenschaftlers Ludwig Schulz auf eine Täterschaft der Terrormiliz IS hin. Vor allem Größe und Ziel des Anschlags sprächen dafür, sagte Schulz, der am Deutschen Orientinstitut Berlin forscht, im DLF. Die Bevölkerung sei zunehmend in Angst.

Ludwig Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Sicherheitskräfte mit schussicheren Westen und Maschinengewehren patrouillieren in einem Flughafenterminal, Zivilisten laufen vorbei.
    Wenige Stunden nach dem Terroranschlag nahm der Internationale Flughafen in Istanbul den Betrieb wieder auf. (dpa/SEDAT SUNA)
    Dirk Müller: Der Istanbuler Atatürk-Flughafen ist der größte Airport der Türkei und einer der größten in Europa. 1912 eröffnet, wurde er später nach dem türkischen Republikgründer Kemal Atatürk benannt. Gestern am späten Abend der Ort des nächsten Anschlags. Sind die drei Attentäter IS-Kämpfer oder Anhänger, Mitglieder extremistischer Kurden-Verbände. 36 Tote, zahlreiche Verletzte.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Ludwig Schulz, Türkei-Experte des Deutschen Orientinstituts. Guten Tag.
    Ludwig Schulz: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr Schulz, geht das jetzt immer so weiter?
    Schulz: Ja das ist leider zu befürchten, denn der Trend deutet ja darauf hin, dass es immer wieder Anschläge in der Türkei gibt. In diesem Jahr schon so viele, im vergangenen Jahr einige, und offenbar, wenn es sich um solche großen massiven Anschläge handelt, wie den nun auf den Istanbuler Flughafen, dann deutet das darauf hin, dass zumindest kleinere weiterhin folgen können, aber auch größere weiterhin im Bereich des Möglichen sind.
    "Maßnahmen, die ins Hohle greifen"
    Müller: Die Sicherheitsbehörden sind ja seit Jahren mit dieser Problematik befasst. Es hat viel neues Personal gegeben, es hat viele neue Waffen gegeben, es hat neue Gesetze gegeben, mehr Informationsaustausch auch mit den Geheimdiensten, Polizei, Militär. Alle Arbeiten in der Türkei da an einem Strang. Warum kann der Staat die Bürger nicht besser schützen?
    Schulz: Nun, man könnte natürlich darauf antworten, dass das Gleiche auch für den belgischen Staat oder auch Frankreich zum Beispiel gilt. Nur Deutschland wurde bislang Gott sei Dank, muss man sagen, verschont von einem Anschlag. Allerdings Sie haben recht: In der Türkei passiert in der Richtung Anti-Terror-Gesetze, Anti-Terror-Maßnahmen sehr, sehr viel. Der Staat versucht, immer durchzugreifen, so gut es geht. Sogar die Terrorzelle der vergangenen Anschläge in Ankara wurde ausgehoben. Mittlerweile stehen 36 Hintermänner dieses Anschlages vor Gericht. Mehrjährige Haftstrafen werden ausgerufen. Und insofern: Die Repressalien beziehungsweise die Gegenmaßnahmen des Staates versuchen, natürlich hier zu greifen. Allerdings vermeiden lässt sich nichts. Wenn es Einzeltäter sind, selbst die in so großem Umfang dann Anschläge durchführen können, dann sind das im Endeffekt nur Maßnahmen, die ins Hohle greifen.
    Müller: Ich muss Sie das jetzt so fragen, Herr Schulz. Ist es einfacher, in der Türkei einen Anschlag zu planen, diesen dann auch umzusetzen?
    Schulz: Gute Frage! Der Punkt ist, dass natürlich die Türkei ein Nachbarland Syriens ist, wo eine ganze Menge Kämpfer des IS oder im eigenen Land natürlich auch mit den Kurden eine ganze Menge Gewaltpotenzial und extremistisches Potenzial vorhanden ist. Organisierbar ist es. Das zeigen auch die Fälle hierzulande. Insofern: In der Türkei gibt es das Potenzial, dass es zu Anschlägen kommt, dass es Extremismus in gewalttätiger Form dann gibt. Ob sie leichter durchführbar sind, das ist immer in den Operationalisierungsmöglichkeiten natürlich der Extremisten.
    "Das Ziel ist mit das zentralste Ziel im zivilen Bereich in der Türkei"
    Müller: Wir müssen natürlich hier an dieser Stelle noch spekulieren. Das möchte ich trotzdem mit Ihrer Hilfe vor allem tun, Herr Schulz. Was spricht dafür, dass der IS, dass die IS-Milizen auch diesmal wieder Chef dieser Operation waren?
    Schulz: Ich denke, zum einen die Größe des Anschlags. Das Ziel ist mit das zentralste Ziel im zivilen Bereich in der Türkei, der Istanbuler Flughafen, der internationale Terminal. Das heißt, Touristen, die internationalen Gäste wollten hier getroffen werden, ähnlich wie das in Brüssel auch der Fall war. Das spricht für den IS vor allen Dingen.
    Organisierbar muss es sein mit so vielen Attentätern, drei Attentätern, die hier mit Sprengstoff und Gewehren eingreifen. Natürlich sind die kurdischen Milizen oder Extremisten dazu auch in der Lage. Allerdings das Ziel, die Signale sprechen dafür, und es soll auch natürlich wieder die Rufe gegeben haben, wurde vermittelt: Alahu akbar, Gott ist groß, soll einer der Attentäter gerufen haben. Das wurde medial berichtet. Ob das stimmt, ist wieder eine andere Frage, aber auch das würde natürlich auf den IS deuten.
    Müller: Ohne das relativieren zu wollen, Terror ist Terror und tote Menschen sind tote Menschen, egal wer sie sind und wo sie stehen. Aber ist es so, dass die Kurden bei ihren Anschlägen, vermeintlichen Anschlägen in den vergangenen Monaten doch ganz, ganz, ganz bewusst immer nur militärische Ziele ausgesucht haben?
    Schulz: Bei den vielen Anschlägen, die es gerade im Südosten des Landes gibt, sind es in der Regel immer Sicherheitskräfte, die hier im Ziel der kurdischen Extremisten, der PKK-Kräfte stehen. Allerdings es gab auch Anschläge zum Beispiel auf eine Busstation in Ankara, wo natürlich auch viele, viele Zivilisten zu Opfern wurden, und dahinter standen dann auch kurdische Extremisten, zumindest nach eigenem Bekenntnis. Insofern: Ausgeschlossen ist es nicht, dass es in diesem Fall auch sich um Kurden handeln könnte, aber es deutet doch sehr viel auf den IS hin.
    Müller: Wenn wir jetzt Revue passieren lassen - von sechs größeren Anschlägen haben wir schon gesprochen, Terrorattentate allein in diesem Jahr, auch im vergangenen Jahr waren es so viele; es hat viele kleinere Anschläge gegeben, über die teilweise gar nicht mehr groß berichtet wird, wo dann vielleicht Menschen "nur" verletzt werden -, ist das jetzt absoluter Alltag in der Türkei?
    "Was hilft die Vorsicht, wenn es dann doch passiert"
    Schulz: Es ist leider Gottes Alltag in der Form, als dass man ständig darüber berichtet oder ständig darüber zur Kenntnis nehmen muss, dass so etwas passieren kann. Der Terror greift da um sich. Soll heißen, die Bevölkerung ist nicht nur gewarnt, sondern sie hat auch Angst. Das spürt man ganz deutlich in der Türkei und das große Problem dürfte wahrscheinlich nun auch wieder sein, dass es zu mehr Misstrauen gegenüber den örtlichen Behörden kommt, ob sie in der Lage sind, die Öffentlichkeit zu schützen.
    Müller: Sie sind vom Deutschen Orientinstitut. Sie waren ganz, ganz oft in der Türkei, beruflich, ich nehme an ja auch privat. Würden Sie in diesen Zeiten mit Ihrer Familie in die Türkei in Urlaub fahren?
    Schulz: Ich glaube, das muss jeder für sich selbst natürlich entscheiden. Ich würde momentan nicht in die Türkei fahren, auch wenn man natürlich sagen kann, man fährt aufs Land, man besucht Freunde vielleicht, wohnt sogar in privaten Häusern. Da gibt es all diese Probleme nicht. Allerdings jetzt so ein Flughafen steht im Zentrum. Das sind ja Orte, wo viele, viele Menschen durchgehen. Es kommt natürlich auf den einen Zeitpunkt an, wo man dann unglücklicherweise am falschen Ort ist. Aber man muss sich zumindest des Risikos deutlich bewusst sein, dem man momentan sich ausgesetzt fühlt.
    Müller: Wobei das auch nichts bringt, wenn der Innenminister Thomas de Maizière immer wieder sagt, Sie müssen da vorsichtig sein, wenn Sie in die Türkei fahren. Man kann ja nicht vorsichtig sein.
    Schulz: Ja vorsichtig müssen wir hier natürlich auch sein. Nur uns ist das hier weniger bewusst und wir haben wie gesagt das Glück gehabt, dass bislang die Behörden zumindest gut die Szene überwacht haben. In der Türkei ist diese Überwachung zum Teil nicht so gut möglich, zum Teil offenbar auch schwierig.
    Müller: de Maizière hatte das ja gesagt mit Blick auf die Türkei, mit Blick auf die deutschen Urlauber, die dort hinfahren, sie sollen Vorsicht walten lassen.
    Schulz: Ja. Was hilft die Vorsicht, wenn es dann doch passiert?
    Müller: Ludwig Schulz bei uns heute mittag im Deutschlandfunk-Interview, Türkei-Experte des Deutschen Orientinstituts. Vielen Dank für das Gespräch und Ihnen noch einen guten Tag.
    Schulz: Herr Müller, ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.
    Müller: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.