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Türkei
Fußballfans im Visier der Regierung

Die Türkei bewirbt sich um die Fußball-EM 2024. Vor der Vergabe hat die UEFA auch die Menschenrechtssituation im Land in den Fokus gerückt: Im Zuge des Machtgewinns für Präsident Erdoğan sind gesellschaftliche Freiräume enger geworden - was auch Fußballfans zu spüren bekommen.

Von Ronny Blaschke |
    Bei den regierungskritischen Gezi-Protesten im Juni 2013 gingen Fans von Fenerbahce, Galatasaray und Beşiktaş Seite an Seite.
    Bei den regierungskritischen Gezi-Protesten im Juni 2013 gingen Fans von Fenerbahce, Galatasaray und Beşiktaş Seite an Seite. (imago sportfotodienst)
    Es beginnt im Mai 2013 mit Kundgebungen gegen ein Bauvorhaben im Gezi-Park, im Herzen von Istanbul. Die Polizei reagiert mit Gewalt, doch die Demonstranten wollen sich nicht einschüchtern lassen. Die Bewegung wächst und geht auf andere Städte über. Auf dem Taksim-Platz in Istanbul stellen sich unterschiedliche Gruppen gegen die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan. Auch hunderte Fußballfans von Vereinen, die sich sonst feindselig gegenüber stehen. Mit dabei: Emre aus dem Umfeld von Beşiktaş. Sein Nachname soll aus Sicherheitsgründen unerwähnt bleiben.
    "Beşiktaş, Fenerbahçe, Galatasaray, alle Fans skandierten für ein großes Ziel. Lange war die Stimmung friedlich, ja sogar humorvoll. Wir hatten den Glauben, dass die Regierung zurücktreten muss. Aber die Erwartungen waren wohl zu hoch, und die Probleme zu komplex. Einige Gruppe protestierten für die Kurden, andere für die Flüchtlinge aus Syrien. Und die Polizei reagierte ziemlich brutal. Die Demonstranten gingen bald ihren eigenen Weg und verstreuten sich."
    Regierung fürchtet Vernetzungskraft der Fans
    Mehr als drei Millionen Menschen nehmen 2013 an tausenden Protestaktionen teil. Und auch danach regt sich Protest, zum Beispiel in Stadien. Ein beliebter Gesang: "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand". Fans in Istanbul zeigen regierungskritische Banner und besingen Atatürk, den Gründer der modernen und säkularen Republik nach dem ersten Weltkrieg. Doch die Netzwerke der Regierungspartei AKP erholen sich allmählich von den Gezi-Protesten. Einem Wiederaufflammen wollen sie früh entgegen wirken, berichtet der kritische Sportjournalist Volkan Ağır.
    "Bald nach den Gezi-Protesten gab es ein großes Istanbul-Derby zwischen Beşiktaş und Galatasaray. Am Ende des Spiels stürmten Fans von Beşiktaş den Platz. Das Spiel wurde abgebrochen und der Verein bestraft. Später erfuhren wir, dass die Verantwortlichen für den Platzsturm Verbindungen zur Regierung haben. Diese Leute wollten die Gezi-Demonstranten auseinander treiben und den Ruf der Beşiktaş-Fans zerstören."
    Bei der Regierung wächst die Sorge davor, dass sich die Fußballfans zu stark vernetzen könnten, erzählt Volkan Ağır. Lange seien Stadien schwer zu kontrollieren gewesen. Das ändert sich 2014 mit der Einführung eines elektronischen Ticketsystems. Zuschauer benötigen nun eine personalisierte Plastikkarte. Die einzige Betreiberfirma ist eine Bank mit guten Kontakten zur AKP. Politik und Funktionäre bezeichnen diese Maßnahme als Vorbeugung gegen Fangewalt. Doch für Patrick Keddie ist das ein Vorwand. Der britische Journalist hat im März ein Buch über den türkischen Fußball veröffentlicht.
    "Das System der Überwachsungskameras wurde in den Stadien noch weiter ausgebaut. Wer sich für das elektronische Kartensystem anmeldet, muss persönliche Daten hinterlegen: Name, Adresse, Foto. Zudem sind politische Botschaften und Banner streng untersagt. Viele Fans sind davon eingeschüchtert."
    Mit zunehmender Überwachung kommen weniger Zuschauer
    Überdies werden in den Monaten nach Gezi hunderte Fans vorübergehend festgenommen. 35 Anhänger von Beşiktaş stehen 2015 vor Gericht. Der Vorwurf: Terrorismus und Pläne für einen Staatsstreich. Hunderte protestieren dagegen. Die Anschuldigungen werden fallengelassen, doch viele Fans sind seitdem vorsichtig. 2014 liegt der Zuschauerschnitt in der Süper Lig bei 14.000. Inzwischen ist er um ein Drittel gesunken. Einige Fangruppen boykottieren die Stadien, zum Beispiel Vamos Bien aus dem Umfeld von Fenerbahçe. Einer ihrer prägenden Köpfe ist Sener.
    "Immer mehr Menschen haben Angst vor der Regierung. Vor allem seit dem Putschversuch 2016 und dem anschließenden Ausnahmezustand. Wir halten uns mit politischen Botschaften zurück, auch im Internet. Denn sie können uns jederzeit festnehmen. Im Stadion bestand unsere Gruppe früher aus 100 Leuten, aber inzwischen sind wir nur noch dreißig. Wir schauen uns die Spiele von Fenerbahçe in der Kneipe oder im Park an. Oder wir gehen zu Amateurspielen oder zum Basketball. Früher drehte sich alles um Fußball. Wir vermissen diese Zeit sehr."
    "Koran-Verse in Stadien keine Seltenheit mehr"
    Nicht alle politischen Botschaften sind aus den Stadien verschwunden. Klubs wie Başakşehir in Istanbul oder Osmanlıspor in Ankara sind in konservativen Vierteln zu Hause. Ihre Funktionäre machen keinen Hehl aus ihrer Nähe zur AKP. Die türkische Nationalmannschaft spielt seit Jahren kaum noch in Istanbul. Zu groß sei die Sorge der Regierung vor Protesten, sagt Emre, Anhänger von Beşiktaş. Und beschreibt ein neues Klima in einigen Stadien.
    "Das Skandieren von Koran-Versen ist keine Seltenheit mehr. Die Regierung setzt auf Nationalismus und Religiosität, das zeigt sich auch immer mehr in den Stadien. Viele liberale Menschen bleiben fern, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Das ist ein Effekt von Erdoğan."
    Für die EM 2024 hat die Türkei zehn Stadien vorgesehen. In konservativ geprägten Städten wie Konya oder Trabzon, nicht aber im westlich geprägten Izmir. In Istanbul stehen zwei Arenen auf der Liste der Austragungsorte. Die Heimstätten der teils kritischen Fanszenen von Beşiktaş und Fenerbahçe gehören nicht dazu.