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Türkei
Homophobie im Namen des Islam

Wochenlang gab es in der Türkei kein anderes Thema als die Corona-Krise. Dann sorgte Ende April eine Predigt des obersten Islamgelehrten Ali Erbas für Aufsehen: Er verurteilte Homosexualität aufs Schärfste, brachte sie in Verbindung mit der Verbreitung von Krankheiten. Der Protest war massiv. Aber wie wirkt sich die Debatte im Alltag von Homosexuellen aus?

Von Kristina Karasu |
Erdogan bei der Eröffnung der Moschee. Er blickt ernst.
Der oberste Islamgelehrte der türkischen Diyanet, Ali Erbas (links), hat mit einer homosexuellenfeindlichen Rede für Aufsehen gesorgt (imago stock&people, 85779128)
Stets lächelt er, stets hat er einen Witz auf den Lippen. Nur wenn der 31-jährige Mehmet sich unbeobachtet fühlt, überschattet Melancholie sein Gesicht. Der Istanbuler Architekt ist homosexuell, doch das wissen nur die wenigsten in seinem Umfeld, nicht einmal sein Vater. Deswegen will er nicht, dass sein richtiger Name im Radio genannt wird. Er stammt aus einer religiösen Familie, auch er ist tiefgläubiger Muslim. Jahrelang wurde er von schweren Gewissenskonflikten geplagt:
"In der islamischen Welt wird Homosexualität oft als etwas sehr Schlechtes dargestellt. Ich habe das so oft hinterfragt: Ist es nun eine große Sünde - oder nicht? Nach einer Weile bin ich zum dem Schluss gekommen: Gott hat mich so erschaffen, er hat mir dieses Verlangen gegeben. Deswegen bin ich nicht dafür verantwortlich. Jahrelang habe ich mich damit etwas beruhigt."
Diyanet: Homosexualität strikt verboten
Doch dann hörte er Ende April die Freitagspredigt des Leiters der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbas. Der Islamgelehrte verkündete da zum Auftakt des Fastenmonats Ramadan, Homosexualität sei im Islam strikt verboten:
"Ihr Sinn ist es, Krankheiten zu verbreiten und Generationen verfaulen zu lassen. Jährlich sind hunderttausende Menschen dem HI-Virus ausgesetzt, der verursacht wird von illegitimem und unverheiratetem Zusammenleben, das in der islamischen Literatur als Ehebruch bezeichnet wird - als etwas, das ganz klar verboten ist. Lasst uns zusammen aktiv werden, um die Menschen vor solchen Übeln zu schützen."
Architekt Mehmet beschäftigten diese Sätze tagelang, er kam kaum zur Ruhe. Als sei er zur Zielscheibe erklärt worden:
"Diese Worte haben mich zutiefst erschüttert. Ich fand sie absolut unangemessen, vor allem jetzt in der Pandemie. Der Islam ist eigentlich eine sehr tolerante Religion, doch Diyanet schürt hier Feindschaft. So kann eine Mutter zur Feindin ihrer Tochter werden, oder ein Vater zum Feind seines Sohnes. Ich habe viele Freunde in meinem Umfeld, die so etwas erlebt haben, als sie sich geoutet haben."
Anwaltskammer: "Sie sind von der Verfassung geschützt"
Auch türkische Oppositionspolitiker, Menschenrechtler und Aktivisten verurteilten die Worte des Islamgelehrten. Die Anwaltskammer von Ankara erstattete Anzeige: Die Predigt stachele zu Feindschaft und Hass an. Ebenso habe Erbas in der Vergangenheit schon Frauenfeinde in Schutz genommen und Kindesmissbrauch ignoriert, so die Kammer.
Anwältin und Rechtswissenschaftlerin Öykü Didem Aydin leitet eine Abteilung der Anwaltskammer, die sich für die Rechte von Homo-, Bi- und Transsexuellen einsetzt. Sie begrüßt das Engagement ihrer Kammer, will aber als Privatperson sprechen. Sie betont: Homosexualität war in der türkischen Republik noch nie ein Strafbestand. LGBT-Menschen seien vor dem Gesetz gleichgestellt:
"Sie sind von der Verfassung geschützt. Die Behörde Diyanet wiederum ist laut Verfassung dem Laizismus verpflichtet, soll fern jeder politischen Meinung stehen und hat den Auftrag, die Solidarität und den Zusammenhalt der Nation zu fördern. Doch mit dieser Predigt hat der Diyanet-Chef seinen eigenen verfassungsmäßigen Auftrag verletzt, indem er ausgrenzt und aufhetzt", so Öykü Didem Aydin.
Kurswechsel von Erdogan
Die Staatsanwaltschaft von Ankara sah das anders: Sie leitete Ermittlungen gegen die Anwaltskammer ein - sie habe religiöse Werte eines Teiles der Bevölkerung beleidigt. In den sozialen Medien begann ein Grabenkampf, Zehntausende von Türken stellten sich hinter Erbas, zehntausende kritisierten ihn scharf. Talkshows und Zeitungskolumnen der überwiegend regierungsnahen Medien warnten, offene Homosexualität würde Kinder zur "Perversität" verführen und Familien zerstören. Auch Staatspräsident Erdogan nahm seinen obersten Kleriker in Schutz:
"Er hat nur seine Pflicht gemäß den Regeln seines Glaubens und seines Amtes erfüllt. Was er sagte, war vollkommen richtig", so Erdogan.
Dabei fuhr Erdogan einst einen liberaleren Kurs: In seinen ersten Regierungsjahren setzte er sich - zumindest rhetorisch- für die Rechte von Homosexuellen ein. Noch 2017 lud er die populäre Trans-Sängerin Bülent Ersoy in seinen Palast zum Fastenbrechen. In Istanbul gab es jahrelang eine riesige LBGT-Parade – bis sie 2015 von der Polizei angegriffen und verboten wurden. Der Druck auf zivilgesellschaftliche Bewegungen wächst. Lebendig sind sie trotzdem, findet der 41-jährige Ömer. Er zog vor 20 Jahren aus Istanbul in die Niederlande, auch um seine Homosexualität nicht verstecken zu müssen. Vor zwei Jahren zog es ihn zurück in die Heimat. Er glaubt: Der Wandel der türkischen Gesellschaft sei unaufhaltbar.
"Wegen dieser Predigt werde ich mich vielleicht outen"
"Als ich jünger war, war Homosexualität noch eine große Schande, etwas wofür man sich sehr schämte", sagt Ömer. "Zum Beispiel zeigte vor zwanzig Jahren in einschlägigen Dating-Portalen im Internet niemand sein Gesicht. Doch heute zeigen mehr als die Hälfte der Homosexuellen dort ihr Gesicht. Es hat in den letzten drei, vier Jahren eine große Öffnung in der Türkei stattgefunden, ich glaube, ausgehend von den Gezi-Protesten. Die neue Generation ist viel mutiger, das Internet hat ihnen die Augen geöffnet. Die Jugend ist überhaupt nicht so religiös, wie es gerne behauptet wird. Es gibt wahnsinnig viele Deisten und Atheisten. Da sich die Islamvertreter so schlecht für die Religion einsetzen - und wenn führende Islamvertreter jetzt auch noch mit solchem Unsinn wie dieser Predigt ankommen, werden sich nur noch mehr Leute von der Religion abwenden."
Architekt Mehmet hingegen will sich seine Religion nicht streitig machen lassen, dafür ist sie ihm zu kostbar. Allerdings hat die aktuelle Debatte etwas in ihm bewegt:
"Durch solche Worte werden die Stimmen von Menschen wie mir nur noch mehr zu hören sein. Weil ich in der Türkei lebe, halte ich meine Homosexualität von meiner Familie geheim. Doch wegen dieser Predigt werde ich mich vielleicht outen und laut verkünden: Wenn ich mein Gebet verrichte, an Allah glaube, nichts Schlechtes tue, dann wird mein Gott mich nicht verurteilen."
Diyanet hat für ihn keine Autorität mehr – aber von der Toleranz seiner Religion ist er weiterhin überzeugt.