Es riecht verbrannt. Ali sieht gelangweilt zu, wie die Esskastanien auf seinem fahrbaren Grill erst braun, dann schwarz und schrumpelig werden. Zum Umdrehen hat der junge Kurde, der seit seinem 12. Lebensjahr auf der Istiklal Caddesi in Istanbul steht und Maroni brutzelt, keine Lust. Es kauft ja sowieso keiner etwas.
"Früher konnten Sie hier nicht mal auf die andere Straßenseite rübergehen, so dicht war das Gedränge. Heute ist es selbst am Wochenende ruhig. Letzten Sommer habe ich noch 20 Kilo Kastanien am Tag verkauft. Jetzt sind es sieben, wenn ich Glück habe."
Vor allem das Ausbleiben der Touristen aus Europa macht Ali zu schaffen. "Keiner hier verdient mehr etwas", brummt er und zeigt auf die Saftbar an der Ecke, in der ein langhaariger Typ mit Tattoo und Ohrring auf einen Fernseher starrt. Es sind 31 Grad in Istanbul. Zumindest frisch gepresste Säfte müssten bestens gehen. Doch Ege – eigentlich Musiker und Künstler, wie irgendwie fast jeder der im Stadtviertel Beyoglu lebt – winkt nur müde ab.
"Früher haben wir hier mit vier Leuten hinterm Tresen gestanden und sind kaum hinterher gekommen. Jetzt mache ich alles alleine. Viele Shops um uns herum haben längst zugemacht. Die Istiklal ist tot, so traurig das auch ist."
Keine Straßenmusiker und leere Geschäfte
Tatsächlich ist die Krise auf Istanbuls bekanntester Flaniermeile schwer zu übersehen. Mehr als 500.000 Menschen schoben sich in den letzten Jahren täglich durch die Fußgängerzone, vorbei an Modegeschäften und Cafés, Partykellern, Hinterhofateliers und Galerien. Heute stehen zahlreiche Geschäfte hier leer. Und selbst die Straßenmusiker, die die Bürgersteige von Beyoglu einst als Sprungbrett nach ganz Oben sahen, spielen jetzt anderswo. Der Hut, den ein trotziges Pärchen mit Saxophon und Gitarre vor sich hingelegt hat, bleibt leer.
Doch es ist nicht allein das Ausbleiben der Touristen, das die Istiklal veröden lässt, glaubt Tarkan Konar, der in einer Seitengasse eine Bar betreibt.
"Was die Leute hier jetzt einen 'Geschäftseinbruch' nennen, ist natürlich nicht plötzlich gekommen", so der Aktivist, der gemeinsam mit anderen gegen den Verfall der "alten" Istiklal kämpft.
Er glaubt: Schuld ist der immer wieder stolz verkündete Plan des AKP-Bürgermeisters von Beyoglu, die Istiklal in ein riesiges Open-Air-Shoppingcenter, ein Luxusviertel vor allem für arabische Touristen verwandeln zu wollen. Weil sie tätowierte Straßenmusiker, unangepasste Künstler und Barbesitzer wie ihn aber nicht einfach rausschmeißen können, würden sie dafür sorgen, dass die Geschäfte so schlecht laufen, bis sie von ganz alleine verschwinden, glaubt Konar. Seit Jahren schon würden deswegen Alkohol-Lizenzen verweigert, laute Musik verboten und Steuern erhöht.
"Nehmen Sie nur das Verbot, Tische rauszustellen. So etwas gibt es nirgendwo sonst in der Türkei! Es ist nur dazu da, um uns hier das Geschäft zu verderben. Außerdem war hier früher jeden Tag etwas los: Festivalumzüge, Demonstrationen, Presseerklärungen. Die Leute nahmen daran teil und gingen danach noch einen trinken. Aber heute werden solche Events auf immer öfter verboten – also bleiben auch unsere Läden leer."
Verschwindet eine Kultur?
Doch es sind nicht nur verrauchte Bars und zwielichtige Rotlichtlokale, die so Stück für Stück in den Bankrott getrieben werden. Mit ihnen verschwindet eine Kultur, die die Istiklal Caddesi und das Viertel Beyoglu erst so beliebt machten. Eine Kultur, die türkische Indie-Bands und Gezi-Protestler, Karikaturenmagazine und nicht zuletzt eine in der islamischen Welt einmalige Schwulenszene hervorgebracht hat. All das soll nun verschwinden, glaubt auch Gocaman, der seit fast 30 Jahren ein kleines Programmkino auf der Istiklal führt.
"Sogar, wenn wir richtig gute Filme zeigen, kommt keiner. Denn wenn die Atmosphäre rundherum nicht stimmt, dann gehen die Leute auch nicht ins Kino. Die Buchgeschäfte schließen, die Programmkinos, die Theater – alles eben, was mit Kultur zu tun hat."
Istanbuls kreative Szene könnte weiterziehen, sich anderswo niederlassen. Doch der kulturelle Verfall der Istiklal ist kein lokales Problem, sondern vielmehr ein Symbol für den Zustand der gesamten Türkei, glaubt Turgay Erol, Antiquar und Inhaber einer der letzten Buchhandlungen der Flaniermeile. Seit 25 Jahren sitzt er zwischen osmanischen Tagebüchern und vergilbten Weltkarten und beobachtet den kulturellen Wandel, der seit dem Amtsantritt der AKP-Regierung vor seinem Schaufenster stattfindet. Für kritische Theatermacher, verzottelte Straßenmusiker und aufmüpfige Gezi-Demonstranten ist nicht nur hier sondern nirgendwo in der von der AKP propagierten "Neuen Türkei" mehr Platz, glaubt er.
"So wie die ganze Türkei sich ändert, so ändert sich auch die Istiklal. Beyoglu spiegelt den Charakter dieses Landes. Und der besteht momentan vielleicht aus Kebab und Pommes. Nicht aber aus Kultur. Also werden aus Kinos und Buchläden jetzt eben Dönerbuden."