Ann-Kathrin Büüsker: Der Menschenrechtler Peter Steudtner steht ab heute in der Türkei vor Gericht, unter anderem wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer Terrororganisation. Über die deutschen Inhaftierten und die Beziehungen der Bundesrepublik zur Türkei möchte ich jetzt mit Cem Özdemir sprechen, Spitzenpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen und von vielen inoffiziell bereits als der nächste Außenminister gehandelt.
- Guten Morgen, Herr Özdemir.
Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Büüsker. – Es ist nett, dass Sie mich zum Außenminister machen, aber wir sondieren gerade und die Sondierungen können so oder so ausgehen. Und Ämter vergeben wir gerade keine.
Büüsker: Habe ich ja gesagt, dass Sie inoffiziell so gehandelt werden. – Herr Özdemir, Sondierungsgespräche ist ein gutes Stichwort. Wir haben gestern danach gehört, dass die Grünen weiterhin daran festhalten, dass sie den Beitrittsprozess der Türkei zur EU nicht abbrechen wollen. Wieso?
Özdemir: Weil es genau das Mittel ist, wo wir noch eine Chance haben, die türkische Opposition zu stärken. Gerade die Opposition in der Türkei drängt uns darauf, dass wir nicht das falscheste aller Mittel nehmen, nämlich den Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Sondern wenn wir der Türkei eine klare Botschaft senden wollen, dass Steudtner, Deniz Yücel, aber auch alle anderen deutschen Geiseln freigelassen gehören, dann ist es, dass wir über die Dinge reden, über die wir jetzt Gott sei Dank angefangen haben zu reden: die Beitrittshilfen, die Hermes-Bürgschaften, das Thema Zollunion, also alles das, wo die Türkei ein eigenes Interesse hat. Und wo wir Möglichkeiten haben, der Türkei deutlich zu machen, es gibt keinerlei Fortschritt nirgendwo, solange die Türkei sich in diesem Feld nicht bewegt.
Bei den Beitrittsverhandlungen brauchen wir Einstimmigkeit in der Europäischen Union. Wir haben jetzt ja gesehen: Außer Österreich springt uns da niemand bei. Im Übrigen ist es ein Muster ohne Wert, denn die Beitrittsverhandlungen liegen auf Eis. Jeder weiß, mit Staatspräsident Erdogan gibt es keine Mitgliedschaft.
Büüsker: Sie haben gerade die deutschen Gefangenen in der Türkei als Geiseln bezeichnet. Wo sehen Sie denn mit einem Staat, der deutsche Staatsbürger als Geiseln nimmt, noch eine gemeinsame Basis?
"Vorwürfe konstruiert"
Özdemir: Wenig! – Wenig, vor allem mit Herrn Erdogan. Das muss man sehr klar sagen. Gestern gab es ja eine erste Runde der vertieften Sondierungen und da war das auch Gesprächsgegenstand. Und alle derer, die da versammelt waren, waren sich einig, das gehört ganz nach oben auf die Agenda der deutschen Türkei-Politik. Es kann nicht sein, dass Menschen, die ihre Meinung äußern, die sich für Demokratie, für Menschenrechte einsetzen, mit an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen eingesperrt werden. Herrn Steudtner, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, werden ja Mitgliedschaften in Organisationen vorgelegt, die konträr zueinander stehen. Daran merkt man ja, wie sehr diese Vorwürfe konstruiert sind und nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.
Büüsker: Stellen wir uns mal vor, Sie würden jetzt nach Ankara reisen und ein persönliches Gespräch mit Recep Tayyip Erdogan führen.
Özdemir: Das wäre schwierig, denn ich kann gerade leider nicht nach Ankara reisen. Mir wird gesagt, aus Sicherheitsgründen, aber auch, weil mir wahrscheinlich die Einreise verweigert werden würde. Seit der Armenien-Resolution besteht diese Möglichkeit für mich leider nicht.
Büüsker: Okay. Aber stellen wir es uns vor, Sie würden hinreisen und hätten die Möglichkeit für ein persönliches Gespräch mit Erdogan. Was würden Sie ihm sagen?
Özdemir: Wenn er ein Interesse daran hat, dass wir diskutieren über die Ausweitung der Zollunion, dass wir nicht diskutieren über die Frage Einschränkung Hermes-Bürgschaften oder gar ganz Abschaffung, und alle anderen Dinge, dann erwarten wir unmissverständlich, dass die deutschen Geiseln freigelassen werden. Ohne das kann es keinen Fortschritt nirgends geben.
Büüsker: Die Türkei, die hat ja seit Juli 2016, also seit dem gescheiterten Putsch, 81 Auslieferungsanträge an Deutschland gestellt, zum Teil wegen Gewaltverbrechen, nur wenige davon tatsächlich wegen Terrorverdacht. Wir wissen jetzt um das Rechtsverständnis in der Türkei. Sie haben das gerade erheblich kritisiert. Unter solchen Voraussetzungen, darf Deutschland da Gefangene in die Türkei ausliefern?
"In türkischen Gefängnissen wird leider wieder gefoltert"
Özdemir: Nein, denn dort drohen ihnen leider Folter - das wird ja mittlerweile auch dokumentiert -, Menschenrechtsverletzungen und in jedem Fall kein Gerichtsverfahren, das die Standards eines Rechtsstaates einhält. Gerichtsverfahren in einem Staat, der die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt, die können per sé nicht fair sein. Das bedauern wir im Übrigen, um das sehr klar zu sagen. Nicht alle, die bei uns Zuflucht gefunden haben, sind ja gute Menschen. Aber das ist ja auch nicht die Voraussetzung dafür, dass man Zuflucht findet, dass man guter Mensch ist, sondern die Voraussetzung dafür ist erst mal, dass Verfolgung droht. Die droht leider in der Türkei. Das heißt, die Türkei selber, dadurch, dass sie den Rechtsstaat abbaut, dadurch, dass sie die Unabhängigkeit der Justiz de facto abgeschafft hat, dadurch, dass in den türkischen Gefängnissen leider wieder gefoltert wird, verhindert, dass wir ausliefern können.
Büüsker: Herr Özdemir, ich habe jetzt bei Ihnen ganz viel Kritik an der Türkei gehört, auch so ein bisschen Resignation, was das Verhältnis angeht. Ich habe jetzt nicht verstanden, wie Sie das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei verbessern wollen. Vielleicht können Sie das noch mal erklären.
Özdemir: Na ja. Der türkische Außenminister Cavusoglu hat ja in einem "Spiegel"-Interview vor Kurzem gesagt, dass sie bereit sind, da auf uns zuzugehen. Und daran würde ich sie gerne erinnern und wissen wollen, worin denn das Zugehen besteht. Ich hätte da eine Idee: Das ist das Thema, das Sie auch angesprochen haben in Ihrer Sendung, dass deutsche Geiseln freigelassen werden müssen.
Büüsker: Rechnen Sie denn gerade mit Blick auf Peter Steudtner damit?
Özdemir: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich schaue nicht in den Kopf von Herrn Erdogan. Aber es ist ja mittlerweile auch klar, dass das ja nicht irgendwas ist, was irgendwo unten entschieden wird, sondern ganz oben in der Türkei entschieden wird, sprich im Palast des Staatspräsidenten.
Büüsker: Machen wir vielleicht einen Haken an das Thema Türkei. Ich würde gerne noch mal mit Ihnen über die Sondierungsgespräche gestern Abend sprechen. Es gab ein Papier, was Sie auch getwittert haben, knappe DIN-A4-Seite, wo diverse Dinge draufstehen, auf die Sie sich geeinigt haben. Unter anderem möchten die vielleicht künftigen Jamaika-Partner, also auch Sie, sich zur Schuldenbremse bekennen. Das erscheint mir jetzt nicht so als der große Wurf, weil das steht ja im Gesetz.
Özdemir: Da haben Sie völlig recht. Wenn das allen hilft, dann haben wir das gemacht. Da steht allerdings auch drin, dass das Teil eines Dreiecks ist, und die anderen zwei Ecken des Dreiecks wären Investitionen und wäre das Thema Entlastungen. Investitionen – da steht ja auch was in dem Text drin – damit ist beispielsweise gemeint die energetische Gebäudesanierung, sehr wichtig, wenn man beim Klimaschutz was erreichen möchte. Aber auch Mietwohnungsbau, damit endlich sich was tut bei den dringenden Problemen in den Großstädten, im Umfeld von Großstädten, was Wohnungsmangel angeht. Die Forschungs- und Entwicklungsförderung, damit sich da auch für kleine und mittelständische Unternehmen was tut. Und bei Entlastungen, auch darauf legen wir sehr viel Wert, die Konzentration auf untere und mittlere Einkommen und vor allem auf Familien mit Kindern.
Büüsker: Dass Sie das jetzt so schriftlich festgehalten haben, heißt das, dass das Vertrauen unter den Sondierenden nicht so groß ist?
Özdemir: Na ja. Das heißt doch vor allem, dass wir uns alle kennen, und uns meint uns, also auch uns selber, die Grünen, dass wir uns nachher logischerweise unterschiedlich erinnern. Und dann ist es doch ganz gut, wenn man zumindest festhält, worüber man jetzt sprechen möchte. Das ist ja jetzt nicht ein vorweggenommenes Ergebnis, sondern das ist jetzt das Festhalten daran, das sind die Punkte, über die wir uns jetzt schwerpunktmäßig unterhalten wollen, damit es nicht uferlos wird und man sich auf eine gemeinsame Agenda verständigt. Aber es ist natürlich auch klar: Solange nicht alles geeinigt ist, ist noch nichts fertig geeinigt.
Büüsker: Wo sehen Sie denn die größten Problemstellen?
"Bei Europa gibt es Einigkeit in den Überschriften"
Özdemir: Na ja, das hat man bei dem zweiten Thema danach gemerkt. Wir haben ja gestern Abend zwei Themen besprochen. Bei Europa gibt es Einigkeit in den Überschriften. Das ist schon mal viel wert, dass klar wird, dass das das Kernthema deutscher Außenpolitik ist. Angesichts von Eurokrise, Brexit und dem erstarkenden Rechtspopulismus, siehe die letzten Wahlen in Tschechien, in Österreich, ist es essenziell, dass Deutschland alles dafür tut, Europa wieder zu stärken, dass Präsident Macron erfolgreich ist, dass die Vorschläge von Kommissionspräsident Juncker positiv erwidert werden. Aber sobald man ins Detail geht, gibt es dann doch noch mal große Unterschiede, was das konkret bedeutet. Das werden wir noch mal vertiefen müssen.
Büüsker: Vor allem mit der CSU?
Özdemir: Na, täuschen Sie sich da mal nicht. Es ist nicht nur die CSU; es ist auch manchmal die FDP, die in manchen Fragen doch sehr unterschiedlicher Meinung ist wie wir. Das ist nach wie vor ein langer Weg und leider liegen auf diesem Weg auch ein paar ziemlich große Steine, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit es am Ende reicht für den erfolgreichen Abschluss von Sondierungen.
Büüsker: Die Grünen, die waren ja immer diejenigen, die mit Blick auf den Deutschen Bundestag für Dialog standen, auch mehr Dialog gefordert haben. Gestern haben die Grünen aber gegen einen Antrag der SPD gestimmt, der vorsah, dass die Kanzlerin sich künftig viermal im Jahr den Fragen des Parlaments stellen soll. Warum haben Sie dagegen gestimmt?
Özdemir: Na ja, wir haben ja nicht dagegen gestimmt, sondern wir haben gesagt, lasst uns das doch in den Ausschüssen beraten. Unsere Parlamentarische Geschäftsführerin, Frau Hasselfeldt, hat gesagt, das ist dann ein Gegenstand. Wir stehen da nach wie vor zu unseren Positionen und wollen das gemeinsam beraten. Nur gestern ging es um die Wahl des Bundestagspräsidenten. Gestern ging es darum, dass der Bundestag sich konstituiert. Und in die Wahl des Bundestagspräsidenten hinein eine solche Geschäftsordnungsdebatte, bin ich mir jetzt nicht so ganz sicher, ob das nicht mehr dazu diente, dass die SPD ihre mögliche neue Rolle in der Opposition einüben wollte. Aber das Anliegen selber, das ist ein ernsthaftes Anliegen. Darüber muss man reden, mit Zeit, mit guten Argumenten dafür und dagegen. Darum ging es uns.
Büüsker: Können Sie sich zukünftig vorstellen, dann doch dafür zu stimmen?
Özdemir: Das hängt davon ab, ob wir uns darauf verständigt bekommen oder nicht. Das werden wir jetzt beraten in den Ausschüssen und natürlich gleichzeitig in den Sondierungsgesprächen.
Büüsker: Was sagt denn Ihr Bauchgefühl? Finden Sie persönlich die Idee gut, dass die Kanzlerin sich dem Parlament viermal im Jahr stellen muss?
Özdemir: Einmal in meinem Leben durfte ich mal eine Unterhaus-Sitzung in Großbritannien sehen, in London. Das fand ich doch ganz spannend. Aber da gibt es natürlich auch eine andere Tradition. Jetzt muss man mal schauen, was davon nach Deutschland übertragbar ist. Ich hatte noch keine Gelegenheit, die Bundeskanzlerin direkt danach zu fragen, wie sie es denn findet. Sie haben ja gehört, womit wir gerade beschäftigt waren. Es ging jetzt erst mal um Finanzen, es ging um Europa. Aber sicherlich wird auch die Frage Stärkung der Rechte des Parlaments eine Rolle spielen. Wir haben ja unsere Positionen nicht geändert, nur weil wir jetzt gerade in Sondierungsgesprächen sind in diesen Fragen.
Büüsker: ... sagt Cem Özdemir. Er führt für die Grünen die Sondierungsgespräche mit. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Özdemir: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.