![Protestierende mit Bannern und Slogans der Gewerkschaften. Protestierende mit Bannern und Slogans der Gewerkschaften.](https://bilder.deutschlandfunk.de/7a/ab/b5/d6/7aabb5d6-0c52-4f4d-adc8-00e81eaa441a/proteste-in-der-tuerkei-102-1920x1080.jpg)
Aufgerufen zu den jüngsten Kundgebungen hatten Gewerkschaften. Sie fordern vor allem eine Erhöhung des Mindestlohns, über den derzeit verhandelt wird. Waren die bisher geltenden 3.500 Lira vor einem Jahr noch gut 400 Euro wert, sind es jetzt nur noch 230 Euro. Die Gewerkschaften wollen nun 5.000 Lira Mindestlohn.
Die Kosten für das alltägliche Leben in der Türkei steigen rasant. Im Ballungsraum Istanbul mussten die Bewohner innerhalb eines Jahres durchschnittlich 50 Prozent höhere Preise zahlen, wie die Stadtverwaltung mitteilte. Studierende haben Probleme, bezahlbaren Wohnraum zu finden, weshalb sie zu den Protesten in Ankara aufgerufen haben. Dabei wurden mindestens 90 Studierende festgenommen, wie die Initiative "Wir finden keinen Unterschlupf" mitteilte.
![Eine Frau kauft Tomaten in einem türkischen Lebensmittelgeschäft. Eine Frau kauft Tomaten in einem türkischen Lebensmittelgeschäft.](https://bilder.deutschlandfunk.de/49/75/af/ad/4975afad-fefe-456d-bd2d-1b17a3fa1471/tuerkei-waehrungskrise-lira-inflation-lebensmittel-teurer-100-1280xauto.jpg)
Den höchsten Anstieg verzeichnete Sonnenblumenöl mit einem Plus von fast 140 Prozent. Es gibt erste Berichte über Rationierungen und Lieferengpässe.
Notenbank senkt trotz Inflation die Zinsen
Hintergrund ist die Währungskrise in der Türkei. Die schwache Lira heizt die Inflation zusätzlich an, da importierte Güter teurer werden. Zuletzt hatte die türkische Zentralbank den maßgeblichen Zinssatz auf 15 Prozent gesenkt - entgegen der gängigen Meinung, dass man einer hohen Inflation am besten mit einer Anhebung des Leitzinses begegnet. Bei einer durchschnittlichen Teuerungsrate von rund 20 Prozent vermeiden ausländische Unternehmer tendenziell Investitionen in dem Land.
![Ein Mann zählt seine türkischen Lira in einer Wechselstube in Ankara. Ein Mann zählt seine türkischen Lira in einer Wechselstube in Ankara.](https://bilder.deutschlandfunk.de/FI/LE/_c/a0/FILE_ca023365a7da454d5bd691816ae0582a/wechselstube-in-anka-58335395-jpg-100-1280xauto.jpg)
iPhones statt Sparbücher
Durch den Absturz der Lira kosten Smartphones, Computer und Kosmetika oder andere importierte Waren in der Türkei derzeit deutlich weniger als etwa in den USA. Wie Reuters unter Berufung auf einen Apple-Mitarbeiter in Istanbul berichtet, sehen Käufer iPhones und andere Elektronikprodukte mittlerweile als "Wertaufbewahrungsmittel und weniger als einen Gebrauchsgegenstand".
Kritiker werfen türkischem Präsidenten Einflussnahme auf Notenbank vor
Verantwortlich für die Politik der Zentralbank scheint Präsident Erdogan zu sein. Er vertritt entgegen gängiger volkswirtschaftlicher Lehre die Ansicht, hohe Zinsen förderten die Inflation. Binnen zwei Jahren mussten drei Notenbanker, die sich gegen Erdogans Ansichten stellten, ihren Hut nehmen.
"Er sei immer gegen eine Erhöhung der Zinsen gewesen und werde es auch in Zukunft sein",
sagte Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Er werde diesbezüglich keine Kompromisse eingehen. Zugleich warf der türkische Präsident instutionellen Finanzmarktakteuren vor, "Spielchen" mit dem Lira-Kurs und den Zinsen zu machen. Dies werde man nicht zulassen. Er verfolge mit seiner Wirtschaftspolitik einen "Unabhängigkeitskampf", der "Angriffe" von innen und außen nach sich ziehe.
![Der türkische Präsident Erdogan an einem Rednerpult vor mehreren türkischen Flaggen. Der türkische Präsident Erdogan an einem Rednerpult vor mehreren türkischen Flaggen.](https://bilder.deutschlandfunk.de/FI/LE/_f/8e/FILE_f8e9f29d3e6a3706405e984a1ba6ef90/01102020-erdogan-imago0103005360h-thumb-jpg-100-768xauto.jpg)
Notenbank zieht Notbremse
Anfang Dezember musste die türkische Notenbank am Devisenmarkt intervenieren. Zum ersten Mal seit sieben Jahren habe die Zentralbank Devisen verkauft, um den Kursverfall der Lira im Handel mit dem US-Dollar einzudämmen, teilte die Notenbank mit. Die Intervention sei wegen einer "ungesunden Preisbildung" am Markt erfolgt, hieß es in der Stellungnahme.
Zugleich tauschte Staatspräsident Erdogan den Finanzminister aus. Lutfi Elvan verließ das Amt nach nur etwas mehr als zwölf Monaten. Elvan hatte das Amt seit November 2020 inne, als er nach dem Rücktritt von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak zum Finanzminister ernannt worden war.
Politisch steht Erdogan unter Druck
2023 finden in der Türkei Parlamentswahlen statt. Erdogan verfolgt nach eigenen Angaben eine Wachstumsstrategie, die durch Investitionen, Beschäftigung, Produktion und Außenhandel angetrieben wird. Der AKP-Politiker profitierte anfangs von einer starken Wirtschaft, das verhalf ihm zu mehreren Wahlsiegen.
Wirtschaftskrise in der Türkei: Oppositionsparteien im Aufwind
Zuletzt büßte Erdogan aber wegen der sozialen Verwerfungen an Popularität ein. Meinungsumfragen zeigen, dass auch unter seinen Anhängern die Unzufriedenheit mit seiner Finanzpolitik zunimmt. Oppositionsparteien gewinnen laut Umfragen an Zulauf. So forderte der frühere Ministerpräsident und AKP-Parteikollege, Ahmet Davutoglu, bereits Neuwahlen.
Und auch bei den jüngsten Protesten wurden Stimmen gegen Erdogan laut. Gewerkschaftschef Adnan Serdaroglu etwa rief den Menschen laut taz zu: "Die Regierung fährt die türkische Wirtschaft an die Wand. Sie muss abtreten, bevor es noch schlimmer wird."