Man muss besonders gute Ohren haben, um die Hagia Sophia in Istanbul zu hören. Denn seit das einstige Gotteshaus vor 80 Jahren in ein Museum umgewandelt wurde, ruft kein Muezzin mehr von den Minaretten. Kirchenglocken läuten hier bereits seit über 500 Jahren nicht mehr. Umso mehr überraschten die Worte des türkischen Politikers Bülent Arinc bei einem Besuch der Hagia Sophia im November:
"Die Hagia Sophia sagt uns etwas. Was möchte sie uns mitteilen? Selbst wenn Sie es mit den Ohren nicht hören können, können Sie es in ihrem Herzen spüren."
Die Sätze des Vize-Premiers der Türkei ließen sowohl christliche als auch muslimische Gläubige in aller Welt aufhorchen. Denn die Diskussion um die Wiedereröffnung der Hagia Sophia als Moschee war mit der kleinen Rede von Bülent Arinc auf höchster politischer Ebene angekommen.
Es war der säkulare, westlich orientierte Republikgründer Atatürk, der das Gotteshaus vor 80 Jahren in ein Museum verwandelte. 1000 Jahre hatte es zuvor als Kirche gedient, danach fast 500 Jahre als Hauptmoschee der Osmanen. Nun aber mussten sowohl gläubige Muslime mit der Entscheidung Atatürks leben, als auch orthodoxe Griechen, die die einstige Kathedrale von Konstantinopel nach wie vor als größte Kirche der Christenheit verehren. Gerade sie sind schockiert von den neuerlichen Andeutungen.
"Für mich sieht das nach rein politisch motivierten Plänen aus."
Erklärt der Sprecher des griechischen Patriarchats in Istanbul, Pater Dositheos.
"Istanbul war einst christlich-byzantinisch, es war die zweitgrößte Stadt des römischen Reiches. Niemand stellt das infrage. Aber hier geht es allein darum, der Welt die osmanische Geschichte zu beweisen. Wenn es rundherum nicht genug Moscheen gäbe, wäre es etwas anderes. Aber Platzmangel ist nicht das Problem. Es geht also um etwas anderes, um eine neoosmanische Politik."
Vieles spricht dafür, dass Pater Dositheos Recht hat. Platzmangel kann bei über 3000 Moscheen allein in Istanbul tatsächlich nicht der Grund sein, warum in den letzten Jahren im ganzen Land Kirchen und Museen in Moscheen rückverwandelt werden. Nur ein Beispiel unter vielen ist die kleine Schwester des berühmten Istanbuler Bauwerks: die Hagia Sophia im nahegelegenen Iznik.
"Im achten Jahrhundert, als die Christenheit noch vereint war, fand dort das siebte ökumenische Konzil statt. In diesem Sinne ist die Kirche in Iznik für alle Christen der Welt von Bedeutung. Aber in eine Moschee umgewandelt, lässt sich das nicht mehr nachvollziehen."
Wie viele andere Kirchen der Türkei auch, wurde die Hagia Sophia von Iznik bereits vor über 500 Jahren von den Osmanen als Moschee genutzt. Oft bedeutete gerade das die Rettung für die sonst dem Verfall preisgegebenen Gotteshäuser. Heute jedoch haben sie genau deswegen sowohl für Christen als auch für Muslime spirituelle Bedeutung. Wer hat nun mehr Rechte? Die, für die sie erbaut wurden – die Christen? Oder die, die heute mehr als 99 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen und die die Orte aktiv nutzen würden – die Muslime? Eine schwer lösbare Frage.
Genau deswegen, so der Archäologe Engin Akyürek, müssten Orte wie die Hagia Sophia als Museen und nicht als Besitztum einer einzelnen Religionsgruppe genutzt werden. Die Entscheidungen von Republikgründer Atatürk rückgängig zu machen, hält er für falsch.
"Nehmen wir ein aktuelles Beispiel, das Studios-Kloster in Istanbul. Im letzten Jahr wurde beschlossen, es von einem Museum wieder in eine Moschee zu verwandeln. Diese Basilika ist von unschätzbarem Wert: Sie stammt aus dem fünften Jahrhundert, ist also eines der ältesten Gebäude Istanbuls. Heute sind nur noch die Reste der vier Wände übrig und der Marmorboden. Wenn man daraus nun wieder eine Moschee macht, dann wird man ein Dach bauen, fehlende Säulen ersetzen et cetera. 70 Prozent werden neu sein, dann können wir doch nicht mehr von einem byzantinischen Bau sprechen."
Auch Akyürek glaubt nicht daran, dass es bei der Politik der regierenden AK-Partei wirklich um einen Mehrbedarf an Moscheen geht. Er spricht stattdessen von Symbolpolitik. In diesem Sinne scheint auch die neu entflammte Diskussion um die große Hagia Sophia nicht allein ein Ausdruck strenger Religiosität zu sein.
In der zu großen Teilen gläubigen türkischen Gesellschaft lassen sich mit solchen Themen kostbare Wählerstimmen sammeln. Das wusste auch Vizepremier Bülent Arinc bei seinem Besuch im November.
"Gott sei Dank durfte ich schon zwei Ereignisse miterleben, die mich sehr glücklich gemacht haben: Zwei andere Gotteshäuser mit dem Namen Hagia Sophia konnten bereits wieder als Moscheen eröffnet werden, in Trabzon und in Iznik. Heute schauen wir auf die traurige Hagia Sophia hier in Istanbul. Und wir bitten Gott darum, dass die Tage, in denen sie wieder lächeln wird, bald kommen mögen."
Unzählige Gemälde im Inneren des Gotteshauses müssten wegen des islamischen Bilderverbots verdeckt werden, sollten Arincs Wünsche wahr werden. Gerade erst wurden die jahrzehntelangen Arbeiten beendet, die die von den Osmanen bereits einmal übertünchten Kunstwerke in mühsamer Kleinarbeit wieder freilegten. Nicht nur für die Christen steht deswegen viel auf dem Spiel, wenn die türkische Regierung mit ihrer Politik fortfährt, meint Archäologe Akyürek.
"Wenn Sie den Louvre in Paris zerstören, können Sie es vielleicht einfach wieder aufbauen. Aber wenn Sie die Pyramiden in Ägypten zerstören, können Sie das eben nicht. Genauso sprechen wir auch hier vom Erbe der Menschheit. Diese Bauten stehen zwar auf türkischem Boden, aber eigentlich gehören sie allen Menschen gemeinsam."