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Türkei nach dem Putschversuch
"Die westliche Lebensart wird unter Beschuss genommen"

Der Leiter des Goethe-Instituts in Istanbul, Christian Lüffe, zeigt sich besorgt über das Vorgehen der türkischen Regierung nach dem Putschversuch und der Stimmung im Land. Der Unmut von AKP-Sympathisanten richte sich vor allem gegen westliche Intellektuelle, sagte er im DLF. "Es beginnt eine Hetzjagd auf alles, was nicht religiös-konservativ ist."

Christian Lüffe im Gespräch mit Karin Fischer |
    Männer in einer Menschenmenge in der Dunkelheit. Sie rufen und schwenken die türkische Flagge.
    Christian Lüffe berichtet von "marodierenden Gruppen von Männern", die in westlich geprägten Stadtvierteln Istanbuls Menschen provozierten. Freizügig gekleidete Mädchen würden auf der Straße verprügelt. (AFP/OZAN KOSE)
    Karin Fischer: Was gerade in der Türkei stattfindet, gleicht auch einem Kulturkampf, denn jetzt fühlen sich auch Intellektuelle massiv bedroht. Lehrer sind entlassen worden, AKP-Anhänger bekämpfen den gesamten westlichen Lebensstil. Dem Putschversuch vom Freitagabend folgte ja eine massive Säuberungsaktion der Regierung. Damit habe Präsident Erdogan jetzt schon den Rechtsstaat ausgehebelt, sagte Ali Ertan Toprak, der Vorsitzende der kurdischen Gemeinde in Deutschland, heute Morgen in diesem Programm:
    "Die Rechtsstaatlichkeit ist aufgehoben, Gewaltenteilung ist aufgehoben, die Pressefreiheit besteht nicht mehr, die Medien in der Türkei sind gleichgeschaltet und auch die Immunität der Opposition ist nicht mehr gewährleistet. Also drei wichtige Komponenten eines demokratischen Rechtsstaates sind in der Türkei schon längst nicht gegeben."
    Fischer: Stimmen aus der Opposition oder von Erdogan-Gegnern in der Türkei werden angesichts dieser massenhaften Verhaftungen nicht wirklich laut. Ich habe deshalb den Leiter des Goethe-Instituts in Istanbul, Christian Lüffe, vor der Sendung gefragt, welche kulturellen Gräben sich in der Türkei da jetzt auftun.
    Christian Lüffe: Erst mal beginnt es in der Alltagskultur damit, dass individuelle Lebensentwürfe und westliche Lebensart doch jetzt sehr, sehr stark unter Beschuss genommen werden. Das Problem ist: Obwohl man natürlich der Gülen-Bewegung diesen Putsch anlastet, die ja ebenfalls religiös ist, richtet sich der Unmut der doch sehr militanten AKP-Sympathisanten gegen die westlich orientierten Intellektuellen und beginnt im Einfachen damit, dass junge Mädchen auf der Straße sogar verprügelt werden, weil sie sich westlich kleiden, sie tragen kurze Röcke oder T-Shirts, die oben offen sind. Also es beginnt eine Hetzjagd auf alles, was nicht religiös-konservativ ist.
    Imam: "Die Zeit der Intelligenzija ist vorbei"
    Fischer: Wie muss man sich das vorstellen?
    Lüffe: Ja es gibt zum Beispiel sehr viele marodierende Gruppen von Männern, die mit Autos und türkischen Fahnen laut hupend durch die Stadt fahren, als habe man die Europameisterschaft im Fußball gewonnen, und gleichzeitig in den Vierteln auftauchen, wo Leute auf der Straße sitzen, an den Terrassen Alkohol trinken. Die werden provoziert. Ansonsten wird über die Medien verbreitet, dass die Zeit der Intelligenz jetzt vorbei sei. Es gibt einen Imam, der gepredigt hat auf der Beerdigung der Opfer des Putsches, jetzt ging es gegen die Intelligenzija.
    Fischer: Wenn ein Imam ankündigt, es ginge jetzt gegen die Intelligenzija, dann werden da ja bei uns ganz böse Assoziationen wach, von den Säuberungswellen unter Stalin Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den Nazis.
    Lüffe: Es ist so, dass mir gegenüber andere Leute gesagt haben, vieles was jetzt die marodierenden AKP-Jugendgruppen tun, erinnert sie an die SA. Ich selber würde das nicht so formulieren, aber es gibt Leute, die das so empfinden.
    Fischer: Sie haben ja viel mit jungen Menschen zu tun im Institut und Kontakt auch zur deutsch-türkischen Community in Istanbul. Wie reagieren die?
    Lüffe: Es ist so, dass wir derzeit 6.000 Kursteilnehmer haben. Die meisten davon sind intelligente junge Studenten. Viele möchten in Deutschland studieren. Man merkt, dass viele den Wunsch haben, die Türkei zu verlassen, also die Option, in Deutschland zu leben.
    "Unverständlich, warum westlich orientierte Intellektuellen unter Druck stehen"
    Fischer: Wir haben früher schon von der nationalen oder traditionelleren Ausrichtung von Kulturinstitutionen gehört. Ist das etwas, was jetzt auch eine Rolle spielt? Sind die Kulturinstitutionen mit betroffen?
    Lüffe: Ja, auf jeden Fall! Wir haben gerade von einer Kunst-Biennale in einer relativ liberalen Stadt am Schwarzen Meer gehört, dass sie diesmal stattfinden darf und soll, und ein Ort, der im Grunde genommen vorwiegend von westlich orientierten Türken besucht wird, der wird jetzt sehr, sehr stark frequentiert von Leuten aus Nachbarstädten und so, die offenbar einer konservativ-religiösen Regierungspartei angehören und die versuchen, ihren Lebensstil dort jetzt durchzusetzen.
    Fischer: Was bedeutet das für zum Beispiel Museen, Galerien, Theater, Oper in Istanbul, einer Stadt, die ja sehr stark westlich geprägt ist auch?
    Lüffe: Das jetzt abschließend zu beurteilen, dafür ist es zu früh. Wir befinden uns ja gerade mal 72 Stunden nach dem Versuch, diesen Staatsstreich zu machen. Und ein Großteil dieser Maßnahmen wird sicherlich erst in den nächsten Monaten umgesetzt werden oder angekündigt werden. Aber ich glaube, es wird erhebliche Auswirkungen haben. Es ist unverständlich, warum gerade die westlich orientierten Intellektuellen jetzt unter Druck stehen, wo doch die angeblichen Täter zur Gülen-Gruppe gehören sollen, die ja nicht westlich orientiert sind, sondern sehr wohl religiös orientiert sind. Aber man nimmt das als Vorwand, um gegen westlich orientierte Intellektuelle vorzugehen.
    "Eine offensichtliche Resignation und Mutlosigkeit"
    Fischer: Sie können, Herr Lüffe, heute relativ frei reden, weil Sie nur noch eine Woche in Istanbul bleiben. Welche Möglichkeit gibt es dort noch, sich zu äußern? Können die Goethe-Institute ein Ort der freien Meinungsäußerung bleiben, oder auch des möglicherweise künstlerischen Protests?
    Lüffe: Ich hoffe sehr, dass die relative Freiheit, die wir in den letzten Monaten hatten, annähernd erhalten bleibt. Ich sehe aber, wie immer mehr Künstler und Intellektuelle sich eingeschränkt fühlen, und das sind ja unsere Paten. Dort ist eine offensichtliche Resignation und Mutlosigkeit zu verspüren, was ich sehr, sehr bedauere, weil bislang die türkischen Künstler und Intellektuellen immer sehr, sehr mutig waren. Auch wenn es einzelne Fälle von Zensur und so weiter gab, sie haben immer dagegen protestiert. Ich weiß nicht, wie lange dieser Mut noch möglich sein wird.
    Fischer: Christian Lüffe war das, der Leiter des Goethe-Instituts in Istanbul.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.