NATO-Beitritt von Schweden und Finnland
Warum bremst die Türkei die Norderweiterung?

Finnland und Schweden hoffen weiter darauf, gemeinsam der NATO beitreten zu können. Doch die Türkei blockiert den Beitritt von Schweden zur Allianz und fordert die Auslieferung zahlreicher Gülen-Anhänger und PKK-Aktivisten.

19.02.2023
    Recep Tayyip Erdogan vor der türkischen Staatsflagge
    Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan verweigert Schweden die Unterstützung beim NATO-Eintritt. (picture alliance / dpa / Christoph Soeder)
    Schweden und Finnland wollen der NATO beitreten, doch die Türkei blockiert bislang eine schwedische Mitgliedschaft. Seit Monaten verweigert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Beitritt Schwedens zur Allianz - trotz der befürchteten Bedrohung der beiden Länder durch Russland.

    Gemeinsamer Beitrittsantrag in die NATO

    Finnland und Schweden hatten am 29. Juni 2022 einen gemeinsamen Beitrittsantrag gestellt. Die Türkei und Ungarn weigern sich bislang als einzige Mitglieder des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, den Anträgen zuzustimmen. Ungarn hatte eine Entscheidung für Ende 2022 angekündigt, diese aber auf 2023 verschoben.

    Wie begründet Erdogan seine jüngste Entscheidung?

    Die türkische Regierung unter Präsident Erdogan wirft Schweden vor, die in der Türkei operierende kurdische Terrororganisation PKK zu unterstützen. Anlass war auch eine Demonstration Mitte Januar 2023 in Stockholm bei der PKK-Anhänger eine dem türkischen Staatschef nachempfundene Puppe kopfüber an einer Straßenlaterne aufhängten.
    Verärgert war man in der Türkei zudem über eine Provokation durch Rasmus Paludan von der islam- und einwanderungsfeindlichen Partei "Stram Kurs" ("Strenger Kurs"): Der Rechtsextremist hatte im Rahmen einer angemeldeten Demonstration vor der türkischen Botschaft in Stockholm einen Koran verbrannt. Bereits im April 2022 hatte Paludan bei mehreren öffentlichen Auftritten Koran-Ausgaben verbrannt und damit Gegendemonstrationen und Ausschreitungen provoziert.
    Der rechtsextreme Politiker Rasmus Paludan verbrennt in der Nähe der türkischen Botschaft einen Koran.
    Der Rechtspopulist Rasmus Paludan verbrennt den Koran. (Joel Lindhe / ZUMA Press Wire / dpa / Joel Lindhe)
    Die finnische Politologin Minna Ålander bezeichnete das türkische Veto gegen den schwedischen NATO-Beitritt als "sehr extreme Reaktion". Zumal es sich bei den Provokationen in Schweden um Ausschreitungen von Einzelpersonen gehandelt habe.

    Was fordert Erdogan konkret?

    Ankara hat Schweden 130 Auslieferungsgesuche vorgelegt. Auf der Liste finden sich einige Mitglieder der Gülen-Bewegung, vor allem aber zahlreiche PKK-Anhänger. Insbesondere im Westen der Türkei, wo die PKK nach 40 Jahren Terror auch für viele Liberale ein rotes Tuch ist, ist die Auslieferungsforderung emotional stark aufgeladen.
    Dass Schweden den Gesuchen nachkommt, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Viele auf der Liste sind schwedische Staatsbürger. Einzelnen Auslieferungen widersprach außerdem bereits Schwedens Oberster Gerichtshof.
    Womöglich versucht Erdogan, seine eiserne Blockadehaltung aber auch als Trumpf bei Verhandlungen mit der US-Regierung einzusetzen. Seit geraumer Zeit bemüht sich der türkische Staatschef um die Lieferung von 40 F16-Kampfjets und weiterem militärischen Material aus den USA. Ein Einlenken in Sachen NATO-Norderweiterung könnte Erdogan mit einem Entgegenkommen der USA bei den Waffenlieferungen verknüpfen.
    Für Erdogan waren die Provokationen in Schweden eine Steilvorlage. Er nutzte sie, um die Türkei hinter sich zu versammeln. Zustimmung findet er dabei nicht nur in den eigenen Reihen. Auch die säkulare türkische Opposition sah in der aufgehängten Puppe und Paludans Aktion eine Grenze überschritten.
    Recep Tayyip Erdogan im Porträt.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist in einer Machtposition: Er vermittelt im Ukraine-Krieg und droht mit einem Veto gegen die NATO-Norderweiterung. Auch beim Thema Flüchtlinge kann er Druck auf den Westen machen. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Auch davon abgesehen, stößt die an Forderungen geknüpfte Blockade-Politik der Türkei im Hinblick auf einen raschen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands in der Bevölkerung auf Wohlwollen: Die Türkei biete damit dem Westen die Stirn, meinen viele. Erdogan zeigt seiner Bevölkerung damit, welchen Einfluss er auf die Politik der westlichen Bündnispartner ausüben kann. Das beeindruckt auch Menschen jenseits von Erdogans Anhängerschaft.
    Sollte es bei den geplanten Wahlen im Mai zu einem Regierungswechsel kommen, könnte dies auch Folgen für die türkische Haltung in der NATO-Norderweiterung haben. Ausgemacht ist dies allerdings nicht. Denn auch in der oppositionellen CHP gibt es in dieser Frage unterschiedlich ausgeprägte Haltungen. Wahrscheinlich ist aber, dass sich nach dem Wahlkampf der Tonfall ändern wird, weil die Stimmung nicht mehr so aufgeheizt ist.

    Wie reagiert Schweden?

    Der schwedische Ministerrpäsendent Ulf Kristersson hatte die Koran-Verbrennung von Paludan auf Twitter verurteilt und Sympathien für Muslime geäußert, die sich von der Aktion gekränkt fühlten. Kristersson führt als Mitglied der konservativen Moderaten Sammlungspartei eine Minderheitenregierung an, die von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten getragen wird. Diese reagierten äußerst kritisch auf Kristerssons Tweets. Die Meinungsfreiheit hat in Schweden einen äußerst hohen Stellenwert. So begründet Schweden auch, dass sowohl die Demonstration der PKK-Anhänger als auch Paludans Aktion zuvor genehmigt worden waren.
    Paludans Aktion genießt in der schwedischen Bevölkerung keinen Rückhalt. Nur wenige nahmen daran teil. Sie wird in Schweden als Tat eines Einzelnen betrachtet und keineswegs als Ausdruck einer Staatsräson.

    Wird Finnland ohne Schweden in die NATO eintreten?

    In einem Interview mit der Nachrichtensendung "Tagesthemen" am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz schloss der finnische Präsident Sauli Niinistö nicht generell aus, dass sein Land auch ohne den schwedischen Nachbarn NATO-Mitglied werden könnte. "Finnland hat seinen Willen zum Beitritt klar zum Ausdruck gebracht und wird seine Willenserklärung keinesfalls zurückziehen. Aber wir ermutigen die Türkei in keiner Weise, Schweden und Finnland zu trennen."
    Es liege nun in der Hand der Türkei Entscheidungen zu treffen, sagte Niinistö. Er sei "sehr optimistisch", dass beide Länder noch vor dem NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius Mitte Juli beitreten würden. Finnland würde von einer gemeinsamen Mitgliedschaft mit Schweden profitieren, sagte der finnische Präsident. "Es ist immer gut, einen Partner im Rücken zu haben.'"
    Der finnische Außenminister Pekka Haavisto hatte zu einem früheren Zeitpunkt gesagt, dass ein Alleingang Finnlands zumindest unter bestimmten Bedingungen denkbar wäre. Er betonte aber, dass es für die Sicherheit beider Länder weiterhin wichtig sei, den Weg in die NATO gemeinsam zu gehen: "Das hat absolute Priorität. Aber man muss natürlich die Lage im Blick behalten, wenn etwas passiert, was Schwedens Mitgliedschaft auf lange Sicht verhindert. Noch ist es zu früh, dazu Stellung zu beziehen."
    Mit seinem schwedischen Amtskollegen Tobias Billström stehe er weiterhin im engen Kontakt, um einen gemeinsamen NATO-Beitritt zu erwirken.
    Damit unterstrich Haavisto das mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gestiegene Sicherheitsbedürfnis seines Landes, das im Osten eine 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt. Die finnische Bevölkerung gibt ihm dabei Rückhalt: Laut der finnischen Politologin Minna Ålander befürworten 52 Prozent einen NATO-Beitritt Finnlands zur Not auch ohne Schweden. Für die finnische Bevölkerung handelt es sich bei den Ereignissen in Schweden um unnötige Provokationen Einzelner.
    Sollte die aktuelle Lage darauf hinauslaufen, dass die Türkei Schweden blockiert, aber einem finnischen Beitritt zustimmt, sieht die finnische Politologin Minna Ålander die Regierung unter Zugzwang: Innenpolitisch ließe sich ein Rücktritt vom Beitritt nicht rechtfertigen. Ein finnischer Alleingang würde allerdings beide Länder in eine sicherheitspolitische und -taktische ungünstige Position bringen: Schweden läge dann als große neutrale Zone zwischen Finnland und den mittel- und westeuropäischen Bündnispartnern, während Finnland durch die lange gemeinsame Grenze zu Russland besonders exponiert wäre.
    Allerdings zeigte sich Ålander davon überzeugt, dass die NATO auch in diesem Fall von ihrer Politik der offenen Tür nicht abrücken würde. So haben Schweden und Finnland von den USA und Großbritannien starke Sicherheitsgarantien erhalten. Auch Deutschland und Frankreich haben für den Fall einer Eskalation des Kriegs oder bei gesteigertem Druck auf die beiden Länder Hilfe in Aussicht gestellt. Schweden und Finnland haben darüber hinaus ihre unumstrittene Unterstützung für die Ukraine geäußert.

    Was sind die Hintergründe zur türkischen Blockade-Politik?

    Abgesehen von der Türkei begrüßte seit Beginn der finnischen und schwedischen Beitrittsbemühungen eine überwältigende Mehrheit der NATO-Mitgliedsstaaten die Bündnis-Erweiterung. Inhalt von Beitrittsverhandlungen sind laut NATO-Expertin Stefanie Babst Fragen wie die Integration in die NATO-Kommandostruktur, Truppenpräsenz, militärische Leistungen für NATO-Missionen und der finanzielle Beitrag. Finnische und schwedische Offiziere und Diplomaten seien aber bereits seit einiger Zeit schon im NATO-Hauptquartier und im operativen Kommando präsent, wenn auch nur als Partner.
    Die Grafik zeigt NATO-Beitritte von 1952 bis 1982 und Beitritte von 1999 bis 2020 sowie Schweden und Finnland, die nicht NATO-Mitglieder sind
    Die NATO-Mitglieder (dpa / dpa-infografik GmbH)
    Beim NATO-Gipfel in Madrid Ende Juni 2022 wurde in einem trilateralen Memorandum – zwischen Finnland, Schweden und der Türkei – auf die Bedenken eingegangen, die die Türkei angemeldet hatte. Doch trotz dieser Grundsatzeinigung steht die Ratifizierung durch Ankara weiter aus. Auch Ungarn hat noch nicht unterschrieben, stellt dies aber in Aussicht.

    Quellen: Sofie Donges, Karin Senz, Gunnar Köhne, Helga Schmidt, Klaus Remme, Reuters, dpa, AP, AFP, Statista, Tagesschau.de, FAZ, cp, pto, jma, fmay, thg, gem