Es ist kalt in Istanbul. Trotzdem drängeln sich auf dem riesigen Wochenmarkt im Stadtteil Kadiköy die Besucher. Ein guter Ort für Gürsel Tekin von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, sein Wahlkampfmobil zu parken. Die simple Nachricht, die er mitgebracht hat, schallt per Lautsprecher über den Markt. "Nein” heißt sie. Nein zu Recep Tayyip Erdogans Präsidialsystem, über das die Türken Mitte April abstimmen sollen.
"Wir wollen den Leuten klar machen, dass sie nicht zulassen dürfen, dass unsere Demokratie geopfert wird", so Tekin. "Wir führen ihnen vor Augen, welch ein Fluch Alleinherrscher für ihre Länder sind, zum Beispiel im Nahen Osten. Nicht mal Großkonzerne werden von einer Einzelperson gemanagt."
"Retten sie Atatürks Erbe"
Gürsel Tekin bemüht sich um Anschaulichkeit. Bürgernähe heißt das Rezept, das sich seine Partei für ihre Nein-Kampagne verschrieben hat. Im dunklen Anzug schiebt sich der Mitfünfziger deswegen heute für 15 Minuten durch das Marktgedränge. Eine ältere Türkin, die Haare blond, die Lippen rot, fällt ihm in die Arme, bittet unter Tränen um ein gemeinsames Foto. "Retten Sie unser Land vor diesen Kulturlosen”, schluchzt sie, "retten Sie Atatürks Erbe."
Tekin ist sichtlich gerührt. Doch das Problem seiner Partei, zwischen Zwiebel- und Tomatenbergen wird es deutlich: Während offensichtlich säkulare Türken in freudige Aufregung geraten, sobald der CHP-Mann auftaucht, schauen die kopftuchtragenden Frauen, die an einem Eckstand Babywäsche begutachten, nicht einmal auf.
"Natürlich werde ich beim Referendum mit Ja stimmen. Alle wollen die Türkei schlecht machen und den Islam beschmutzen. Wenn Erdogan gegen sie kämpft, dann bin ich kompromisslos auf seiner Seite. Auch, wenn er bei manchen Themen falsch liegen mag. "
Türken wählen nach Zugehörigkeitsgefühl
Auf dem Istanbuler Marktplatz zeigt sich, was Analysten schon länger beobachten: Die Türken wählen nicht mehr nach Inhalten, sondern nach Zugehörigkeitsgefühl. Für das Referendum im April wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. Das Ja- und das Nein-Lager scheinen etwa gleich groß und spiegeln so die tiefe Spaltung der Gesellschaft.
"Beide Seiten stecken in der Sackgasse",
so Tuna Beklevic, einst führendes Mitglied der regierenden AK-Partei.
"Weder das Ja-, noch das Nein-Lager können auch nur einen einzigen Wähler der Gegenseite von ihrer Position überzeugen. Was die Türkei braucht, ist etwas ganz Neues."
Genau deshalb hat der enttäuschte Ex-AKPler mit anderen die "Hayir-Partisi" gegründet. Eine Partei mit nur einem Ziel: Ein Nein – ein Hayir – beim Referendum im April. Erst danach, so Beklevic, kann etwas Neues am Bosporus entstehen. Dafür will er in den kommenden Wochen vor allem diejenigen erreichen, die zwar Zweifel an einem Präsidialsystem à la Erdogan hegen, aus Zugehörigkeitsgefühl zum konservativen Lager aber am Ende doch mit Ja stimmen könnten.
"Es gibt bereits zahlreiche Nein-Kampagnen mit cleveren, innovativen Ansätzen", so Beklevic. "Aber ich weiß aus meiner Politikerfahrung, dass es das schwerste ist, zu den Menschen in Anatolien vorzudringen."
"Wir müssen kämpfen"
Das gilt erst recht in einer Zeit, in der er Ausnahmezustand herrscht, Erdogan-Kritiker nicht selten als Terrorunterstützer verhaftet und oppositionelle Medien abgeschaltet werden. Tuna Beklevic zuckt mit den Schultern.
"Die Mainstreammedien geben Kritikern wie uns keine Chance mehr, ein Publikum zu erreichen. Aber uns bleiben die sozialen Medien. Und am wichtigsten ist ohnehin der direkte Kontakt. Wir gehen in Läden und treffen Meinungsführer, organisieren offene Veranstaltungen."
39 Städte, 140 Orte und knapp tausend Dörfer haben die Anhänger der Nein-Partei in den vergangenen Wochen bereits besucht. Unter ihnen Studenten und Arbeitslose, Rentner, Hausfrauen und Professoren. Wie fast alle, die sich öffentlich gegen das geplante Präsidialsystem aussprechen, mussten sie sich als "Vaterlandsverräter" beschimpfen lassen, Beamten wurde mit Entlassung gedroht, Beklevic selbst mit Mord.
Keiner weiß, ob sie am Ende eine Chance gegen die Wahlkampfmaschinerie des Erdogan-Lagers haben werden. Aber Aufgeben und auf die Oppositionsparteien vertrauen? Tuna Beklevic schüttelt den Kopf.
"Wenn wir dieses Referendum nicht gewinnen und das Präsidialsystem nicht abwenden, gibt es danach vielleicht gar keine Möglichkeit mehr, aktiv zu werden. Deshalb dürfen wir jetzt nicht aufgeben. Wir müssen kämpfen."