Nach Einschätzung der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird sich die Situation an der türkisch-griechischen Grenze in den kommenden Tagen weiter verschärfen. Tausende Migranten versuchen, weiter aus der Türkei nach Westeuropa zu gelangen. Griechenland hat seine Einheiten an der Grenze massiv verstärkt und fordert die Hilfe der europäischen Partner.
Im Dlf-Interview plädiert die Europaabgeordnete der Linken Özlem Alev Demirel für eine neue und solidarische Migrationspolitik. Die Öffnung der türkisch-griechischen Grenze zeige, dass der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei falsch gewesen sei. Die EU habe sich damit erpressbar gemacht.
Stefan Heinlein: Erledigt Athen als Burgwächter der Festung Europa derzeit die Drecksarbeit in Brüssel?
Özlem Alev Demirel: Leider sieht es danach aus, ja. Vielleicht muss man vorweg sagen: Was man jetzt erneut wieder mit der Eskalation in Syrien und der danach anschließenden Grenzöffnung der Erdogan-Administration gesehen hat, ist, dass dieser Flüchtlingsdeal eigentlich von Anfang an falsch war. Wir haben immer wieder davor gewarnt, dass man nicht auf dieser Grundlage das Problem, dass immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen, insbesondere in Syrien, weil Krieg herrscht, lösen kann, und das zeigt sich jetzt wieder.
"Menschen, die vor Krieg fliehen" brauchen Sicherheit
Heinlein: Frau Demirel, war es eine Illusion zu glauben, man könne mit der Türkei ein Abkommen schließen, das uns dann letztendlich das Flüchtlingsproblem vom Hals hält?
Demirel: Ja, das ist tatsächlich von Anfang an ein Fehler gewesen – aus mehreren Gründen. Wir haben auch immer wieder betont, dass ja aus der Türkei immer mehr Menschen aufgrund der angespannten politischen Situation fliehen müssen. Deshalb war es ein Fehler. Es gibt einige Kolleginnen und Kollegen, Abgeordnetenkollegen, die reden davon, dass sich Europa oder auch Deutschland damit erpressbar macht gegenüber der Erdogan-Administration.
Ich sage, ja, das kann man sagen, aber eigentlich ist es so, dass Europa und auch Deutschland, weil Deutschland hat ja auch mitgewirkt an dem Flüchtlingspakt - an dem Deal mit Herrn Erdogan hat ja Frau Merkel auch eine wichtige Rolle gespielt -, dass wir eigentlich von Grund auf eine falsche Politik gemacht haben, denn Fakt ist, es herrscht Krieg, Fakt ist, es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention. Und Menschen, die vor Krieg fliehen, müssen Sicherheit kriegen können, einen Asylantrag stellen können, und dem ganzen wollte die Europäische Union damit aus dem Weg gehen und über Jahre hinweg wurden dann die Grenzregionen der Europäischen Union, sprich zum Beispiel Griechenland, allein gelassen mit der Problematik, dass immer mehr Menschen kommen, und das kann so nicht weitergehen.
Wir brauchen eine solidarische Lösung, eine solidarische Migrationspolitik. Die muss solidarisch sein gegenüber den Schutz suchenden Menschen und die muss aber auch solidarisch sein unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
"Griechenland hat kein Recht, das Asylsystem auszusetzen"
Heinlein: Hat denn aus Ihrer Sicht, aus Sicht der Linken-Fraktion im Europaparlament Griechenland das Recht, grundsätzlich die eigenen Grenzen mit allen Mitteln jetzt zu schützen, zu verteidigen?
Demirel: Zunächst einmal ist das ja nicht nur die Frage von unserer Sicht. Griechenland hat kein Recht, das Asylsystem jetzt einfach mal für einen Monat auszusetzen. Ja, es gibt das Recht, die Grenzen zu schützen. Das hat auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof letztens noch mal unterstrichen. Doch man muss dabei auch trotzdem die Möglichkeit geben, dass Menschen legale Punkte haben, an denen sie sich registrieren können und ihren Asylantrag stellen können, und da versucht Griechenland ja gerade dem Ganzen aus dem Weg zu gehen. Man hebelt das einfach mal aus und das ist natürlich nicht akzeptabel.
Das widerspricht sowohl den humanistischen Werten, für die viele, viele Menschen in der Europäischen Union stehen, als auch der gegebenen Rechtslage, und das ist tatsächlich inakzeptabel.
"Erdogan benutzt die Situation, um Druck aufzubauen"
Heinlein: Glauben Sie tatsächlich, Frau Demirel, dass in dieser jetzigen Situation an der türkisch-griechischen Grenze, es Möglichkeiten gibt für Flüchtlinge, legal Asyl zu beantragen? Oder muss man jetzt sagen: Schluss, wir setzen das vier Wochen aus?
Demirel: Die Haltung der Regierung in Griechenland – ich habe eben noch mit meinen griechischen Kolleginnen telefoniert, um die Situation noch mal zu erfragen – ist so, dass im Moment überhaupt keine legalen Punkte gegeben werden, wo die Geflüchteten, die jetzt ankommen auf den griechischen Inseln, auch sagen können, wir wollen einen Asylantrag stellen, und das ist nicht akzeptabel. Das ist tatsächlich illegal. Wie gesagt, es gibt das Recht, dass Griechenland oder alle Länder ihre Grenzen schützen können, aber sie können das nicht machen, indem sie das Asylrecht komplett aussetzen, und das ist keine Lösung.
Wissen Sie, ein weiteres Problem ist, dass wir jetzt ja gerade wieder über Menschen reden. Menschen werden jetzt seit einigen Tagen wieder zur Manövriermasse. Die Türkei, Präsident Erdogan benutzt diese Situation, dass 3,8 Millionen etwa, syrische Flüchtlinge, in der Türkei leben, um jetzt Druck aufzubauen auf Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, um seinen Krieg in Syrien unterstützt zu bekommen, und ich finde das alles einen Skandal.
Klar ist, diese Menschen brauchen Hilfe. Denen muss jetzt aktiv geholfen werden. Klar ist, dass der Krieg in Syrien endlich beendet werden muss und man nicht weiterhin Waffen an die Türkei exportieren kann und alle ausländischen Mächte sich langsam mal aus Syrien zurückziehen müssen, damit Syrien einen demokratischen Prozess einleiten kann und sich eine demokratische Verfassung geben kann und die ersten Friedensmaßnahmen dort gefunden werden können.
"Krieg in Syrien muss endlich beendet werden"
Heinlein: Alles ein Skandal, sagen Sie. Sie betonen die humanistischen Werte, Frau Demirel. Wie wollen Sie eine Wiederholung der Situation von 2015 verhindern, der ungehinderte Zustrom von Flüchtlingen nach Europa?
Demirel: Das Europäische Parlament hatte schon vor einigen Jahren – da war ich noch nicht Abgeordnete – beschlossen, dass es eine Reform des Dublin-Systems geben muss, eine Reform, die alle Mitgliedsstaaten in die Pflicht nimmt und nicht nur einige belastet, dass auch die ganze Asyl- und Migrationspolitik finanziell untermauert werden muss, dass Städte und Kommunen, Gemeinden, die zum Beispiel Menschen aufnehmen, auch die entsprechende Hilfe und Finanzmittel brauchen, damit sie nicht im Stich gelassen sind. Diese positive Beschlusslage, die das Parlament getroffen hat – übrigens von den Konservativen bis hin zu den Linken, die das mitgetragen haben -, wurde einfach mal vom Rat, von den Mitgliedsstaaten ausgesetzt. Man hat nichts daran ändern wollen.
Stattdessen hat man gedacht, mit dem Flüchtlingspakt eine Lösung zu kriegen.Das klappt nicht. Jetzt muss geholfen werden. Städte und Gemeinden, die jetzt die Geflüchteten aus Griechenland aufnehmen wollen, müssen die Option kriegen, diese jetzt aufzunehmen. Sie müssen aber auch Gelder bekommen, damit sie die Problemlage lösen können.
Ansonsten muss man Fluchtursachen bekämpfen. Das heißt für mich, dass der Krieg in Syrien endlich beendet werden muss. Das Problem ist ja, dass Herr Erdogan jetzt wahrscheinlich versucht, noch den NATO-Beistand zu bekommen, die Unterstützung der europäischen Mitgliedsstaaten zu bekommen, um weiter Krieg führen zu können, und das darf auf keinen Fall passieren.
"Brüssel sollte abkehren von diesem Flüchtlingspakt"
Heinlein: Frau Demirel, aber Brüssel zahlt schon jetzt viele Milliarden an Ankara, humanitäre Hilfe vor Ort in den Flüchtlingslagern. 3,5 Millionen Flüchtlinge sind in der Türkei und man versucht, auch mit politischen, diplomatischen Mitteln die Fluchtursache zu bekämpfen. Kann man mit Geld allein und Diplomatie das Problem der Flüchtlinge lösen?
Demirel: Nein! Das Problem ist ja auch, dass man Geld an Ankara zahlt, statt selber Menschen aufzunehmen. Wir reden über 3,8 Millionen Geflüchtete in der Türkei, die im "schlimmsten" Fall rüberkommen würden. Wir reden bei der Europäischen Union von einer Gemeinschaft, wo über 500 Millionen Menschen leben.
Heinlein: Hat Erdogan das Recht, die Grenzen zu öffnen, Frau Demirel?
Demirel: Ich glaube, wenn man das solidarisch angehen würde, wäre es kein Problem. Das ist die Sachlage. Herr Erdogan macht eine verlogene Politik. Herr Erdogan macht eine Machtpolitik, die auf Blut aufgebaut ist. In Syrien gegenüber den Geflüchteten, in der Türkei gegenüber der eigenen Bevölkerung. Ich verteidige nicht Herrn Erdogan. Das ist nicht mein Punkt und das würde ich auch an keiner Stelle machen. Aber der Punkt ist, dass man auch hier an dieser Stelle darüber reden muss, was die Europäische Union tut.
Heinlein: Also Grenzen öffnen.
Demirel: Es gibt viele Menschen, die sagen, das sind positive Werte, die wir mit der Europäischen Union verbinden. Das, was aber gerade passiert in der Mittelmeer-Region, was gerade passiert in Griechenland, was gerade passiert in Bosnien zum Beispiel, das sind keine positiven Werte, und ich möchte jetzt tatsächlich daran appellieren, dass wir jetzt mal ruhig und sachlich und besonnen an diese Sache herangehen und sagen, ja, es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention, es gibt das Recht, dass Menschen Sicherheit und Schutz haben, und die Europäische Union muss dieses Recht einhalten. Das tut sie nicht. Stattdessen gibt sie Geld an Herrn Erdogan, der das Geld ausgibt für unterschiedlichste Sachen und der auch wiederum diesen ganzen Deal benutzt, um wieder zu erpressen, und das kann doch keine Lösung sein.
Heinlein: Sollte, Frau Demirel, Brüssel der Türkei letztendlich den Geldhahn zudrehen?
Demirel: Ja! Brüssel sollte der Türkei den Geldhahn zudrehen. Brüssel sollte abkehren von diesem Flüchtlingspakt und wirklich nach einer ernsthaften Lösung für die sogenannte Flüchtlingsproblematik suchen.
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