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Türkei
Protest gegen ein rückwärtsgewandtes Schulsystem

Für mehr Mitbestimmung wird derzeit in vielen Teilen der Türkei protestiert - auch an Schulen. Denn die jungen Leute prangern an, was viele gesellschaftliche Gruppen derzeit beklagen: die zunehmende Einflussnahme der Regierung. Die Regierung in Ankara reagiert nervös.

Von Gunnar Köhne |
    Der türkische Präsident Erdogan während einer Rede im Präsidentenpalast am 5.5.2016.
    Unter dem türkischen Präsidenten Erdogan wächst der Einfluss auf die Schulen. (picture alliance / dpa)
    Alles fing damit an, dass die Abiturienten des Istanbuler Erkek Lisesi, zu Deutsch "Knaben-Gymnasiums", ihrem Direktor auf der Abiturfeier den Rücken zudrehten, als dieser seine Rede beginnen wollte. Unter den anwesenden Eltern brandete Beifall auf. Das deutschsprachige Erkek Lisesi - längst koedukativ für Jungen und Mädchen - gehört zu den Eliteschulen Istanbuls. Zu seinen Absolventen zählen etliche hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft. Der Direktor war erst kurz zuvor von der Erziehungsbehörde ernannt worden - gegen den Willen der Schulgemeinschaft. Eine neue Verordnung gibt dem Ministerium das Recht dazu.
    In einem Flugblatt fordern die Schüler eine "moderne und unabhängige" Schulleitung. Damit wenden sie sich gegen den wachsenden Einfluss der Regierung in den Klassenzimmern und die beschlossene Ausweitung der Religionserziehung. Innerhalb einer Woche haben sich über 370 Schülerschaften im ganzen Land dem Protest mit ähnlich lautenden Erklärungen angeschlossen. Auch das Anadolu Gymnasium im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Dort soll die koedukative Erziehung wieder abgeschafft werden. Begründung: Man könne in einem so verwinkelten Gebäude unzüchtige Handlungen nicht ausreichend kontrollieren. Eine Schülerin empört sich:
    "Überall sind doch in der Schule Kameras installiert worden, mit denen wir überwacht werden! Die behaupten, sie wollten uns Mädchen schützen. Dabei ist überhaupt nichts vorgefallen, es gibt gar keine Probleme. Der wahre Grund ist: Dies ist eine alte, angesehene Schule, die manche einfach weg haben wollen."
    Auf den Massenprotest der Schüler reagiert die Regierung in Ankara nervös. In Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste rief man die Bereitschaftspolizei wegen einer Schülerversammlung. Erziehungsminister Yilmaz vermutet ausländische Aufwiegler hinter den Schülerprotesten. Provokateure wollten eine Wiederauflage der Gezi-Proteste erreichen.
    Regierung versucht Proteste zu unterdrücken
    Nach den Sommerferien soll es Konsequenzen geben. In einem gestern veröffentlichten Rundschreiben forderte das Ministerium die Schulleiter im ganzen Land auf, sogenannte Rädelsführer zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Die Abiturienten des Istanbuler Knaben-Gymnasiums, die mit ihrem Protest alles in Rollen gebracht hatten, sollen angeblich sogar von einem Studium an staatlichen Hochschulen in der Türkei ausgeschlossen werden. Die Opposition ist zornig. Idris Akyüz von der Republikanischen Volkspartei CHP:
    "Die Schüler wehren sich gegen ein rückwärtsgewandtes Schulsystem. Und da haben sie den Rückhalt vieler Menschen in diesem Land. Und was macht die Regierung? Sie versucht mit Drohungen und der Polizei diese Proteste zu unterdrücken."
    Auch viele Eltern lehnen die fortschreitende Islamisierung der Erziehung ab. Nach einer Gesetzesänderung 2012 hat man den Ausbau der religiösen Oberschulen Imam-Hatip vorangetrieben. Koranunterricht und Unterweisung in das Leben des Propheten Mohammed müssen seitdem in allen weiterführenden Schulen angeboten werden.
    Staatspräsident Tayyip Erdogan hatte die Schaffung einer "frommen Generation" gefordert. Auf das Bildungsniveau scheinen diese Maßnahmen jedoch keinen positiven Effekt gehabt zu haben: Bei dem diesjährigen Universitätsaufnahmetest konnten die rund 900.000 Oberschulabsolventen im Schnitt nur 10 von 40 Fragen im Bereich Naturwissenschaften richtig beantworten. In der OSZE-Rangliste der Schulleistungen fiel die Türkei auf Platz 41 von 76 zurück. Zu wenig, sagen Kritiker, um weiterhin zu den 20 stärksten Wirtschaftsnationen gehören zu wollen. Ein Schüler des Istanbuler Anadolu-Gymnasiums, an dem künftig nur noch Mädchen unterrichtet werden sollen, glaubt, dass besonders die westlich orientierten Eliteschulen der Regierung ein Dorn im Auge seien:
    "Wir haben gehört, dass unsere Schule am Ende ganz geschlossen und das Gebäude an eine Hotelkette verkauft werden soll. Wir sind über solche Pläne erschrocken und werden alle legalen Wege nutzen, um das zu verhindern."
    Nicht nur die Gängelung der Schulen, auch die erneute Verhaftung mehrerer Journalisten und der jüngste Prügelangriff auf Alkohol trinkende Jugendliche hat die Spannungen auf Istanbuls Straßen inzwischen wieder steigen lassen. Am kommenden Sonntag könnte sich die Eskalationsschraube weiterdrehen: Dann soll in Istanbul die Gay-Pride-Parade stattfinden. Dem behördlichen Verbot zum Trotz.