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Kommentar zu humanitärer Hilfe
Die Ungerechtigkeit ist oft himmelschreiend

Humanitäre Hilfe werde ihrem Anspruch, neutral und unabhängig zu sein, nicht gerecht, kommentiert Fredy SRF-Journalist Gsteiger. Der Fall der syrischen Erdbebenopfer liefere dafür ein erschütterndes Beispiel.

Ein Kommentar von Fredy Gsteiger |
Weiß Helme, Mitglieder des Zivilschutzes in den syrischen Rebellengebieten, machen eine Pause von Rettungsarbeiten in der Stadt Sarmada im Gouvernement Idlib nach dem schweren Erdbeben in der Region.
Die Weißhelme, eine private Zivilschutzorganisation, die in den syrischen Rebellengebiet tätig ist, war bei den Bergungsarbeiten nach dem Erdbeben auf sich allein gestellt (IMAGO / ZUMA Wire / Juma Mohammad)
Das Prinzip ist ganz einfach. Doch das Prinzip durchzusetzen, ist schwierig. Anspruch auf humanitäre Hilfe haben sämtliche Notleidende - unabhängig von ihrer Ethnie, ihrer Religion und egal, ob sie einer Regierung, Rebellen oder gar Terroristen nahestehen. Insofern ist humanitäre Hilfe neutral. Es geht einzig darum, Leben zu retten, Leid zu lindern. Kein Wunder, dass sich die weltweit größte humanitäre Organisation, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf, explizit zur Neutralität bekennt.

Weniger Hilfe für Nordwesten Syriens

Gerade die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien zeigt jedoch, dass das in der Praxis so nicht stimmt. Humanitäre Hilfe ist politisiert - in mehrfacher Hinsicht. So ist offenkundig, dass den Opfern auf der türkischen Seite der Grenze viel rascher geholfen wurde als jenen auf der syrischen. Im Nordwesten Syriens gelangt Nothilfe bis heute bloss zu einer Minderheit. Es sind weniger als zehn Prozent der nach Jahren des Bürgerkrieges ohnehin gebeutelten Bevölkerung. Das hat mit Logistik zu tun, aber sehr viel auch mit Politik.
Syriens Machthaber Baschar al-Assad verlangt, dass jegliche ausländische Unterstützung über Damaskus fließt, also von seinem Regime kontrolliert wird. Deshalb sorgte er mithilfe seiner Schutzmacht Russland und deren Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat dafür, dass Hilfsgüter bloß noch über einen einzigen Grenzübergang direkt von der Türkei in die von Rebellen kontrollierten Gebiete in Nordwestsyrien gelangen konnten.

Machtlos gegenüber Assad

Dieser Übergang, Bab al-Hawa, ist seit langem ein Nadelöhr. Erst jetzt werden, angesichts der Erdbebenkatastrophe, wieder zwei weitere vorübergehend geöffnet. Doch die UNO musste geradezu darum betteln und Assad hernach überschwänglich danken für etwas, was selbstverständlich sein müsste. Die Weltorganisation kroch zu Kreuze. Sie hatte gar keine Wahl. Zwar könnte der UNO-Sicherheitsrat auch mit einer Resolution die Grenzöffnungen erzwingen – doch bloß, falls Russland kein Veto einlegt.
Dass Assad so viel Wert darauf legt, die humanitäre Hilfe zu kontrollieren, liegt auf der Hand: Wer Hilfe verteilen kann, hat mehr Macht. Er kann sie nutzen, um Gebiete, wo seine Anhänger stark sind, zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Gerade autoritären Regimen wie dem syrischen oder halbautoritären wie dem türkischen ist sehr wohl bewusst, welchen Hebel sie erhalten, wenn sie bei der Nothilfe die Hand ans Steuer legen können.
Die UNO, aber auch Organisationen wie das IKRK würden die Hilfe stets am liebsten und am besten direkt zu den Opfern bringen. Doch das ist selten möglich. Die UNO ist eine Staatenorganisation und eben gerade keine NGO - ihre natürlichen, ja zwingenden Partner sind Regierungen.

Schwindende Bereitschaft humanitärer Helfer als neutral zu betrachten

Auch das IKRK und die meisten Hilfswerke sind auf lokale Organisationen angewiesen. Und diese sind in Diktaturen oft alles andere als staatsfern, etwa der syrische Rote Halbmond, der Partner des IKRK. Wenn also Vertreter von Hilfswerken betonen und verlangen, alle Opfer in allen Landesteilen müssten gleichermaßen Hilfe erhalten, ist das ein löbliches Ziel. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Es ist immer offenkundiger: Die Bereitschaft politischer Akteure schwindet, humanitäre Hilfe umfassend zuzulassen und humanitäre Helfer als neutral zu betrachten. Genauso wie in wachsendem Maße auch Journalisten in Kriegs- und Krisengebieten nicht mehr als unabhängige Beobachter respektiert und geschützt werden.

Mangel an Fairness

Dazu kommt: Unabhängig von den Gegebenheiten vor Ort orientiert sich auch seitens der Geldgeber - ob Staaten oder Private - die Hilfe nicht allein an den humanitären Bedürfnissen. Westliche Länder zeigen sich weitaus großzügiger, wenn es um ukrainische Opfer geht als bei solchen in Mali, Myanmar oder eben Syrien.
Die reichen arabischen Golfstaaten wiederum tragen bis heute kaum zum Budget des IKRK bei. Sie lassen die Mittel lieber über Organisationen fließen, die primär muslimischen Opfern in ihnen wohlgesonnenen Ländern helfen. Das mag verständlich sein - fair ist es nicht.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen also bei der humanitären Hilfe weit auseinander. Der Fall der syrischen Erdbebenopfer liefert dafür ein erschütterndes Beispiel. Leicht zu ändern, ist das nicht. Doch die Ungerechtigkeit ist oft himmelschreiend.
Fredy Gsteiger ist stellvertretender Chefredakteur Radio und Kolumnist beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).