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Türkei und Armenien
Die geschlossene Grenze überwinden

Im kommenden Frühling jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum 100. Mal. Doch von Annäherung keine Spur, so bleibt die Grenze zwischen der Türkei und Armenien geschlossen. Nun will ein Austauschprogramm Vorurteile zwischen beiden Ländern abbauen.

Von Luise Sammann | 14.11.2014
    Türken und Armenier halten am 24.04.2014 in Istanbul Schilder des ermordeten Journalisten Hrant Dink und anderer Opfer während der Gedenkfeier zum 99. Jahrestag der Massenmorde von Armeniern im Ottomanischen Reich.
    Viele Armenier haben noch immer Angst vor ihren türkischen Nachbarn. (picture alliance / dpa - Sedat Suna)
    Schuld, Verrat, Genozid. Es sind Begriffe wie diese, die die türkisch-armenischen Beziehungen seit einhundert Jahren prägen. Bis heute kann in der Türkei vor Gericht gestellt werden, wer das Wort vom Völkermord an den Armeniern auch nur in den Mund nimmt. Gleichzeitig wachsen in Armenien ganze Generationen mit einem Türkeibild auf, das die Nachbarn allein als grausame Mörder ihrer Groß- und Urgroßeltern zeigt.
    "Wenn du in Armenien groß wirst, dann kennst du die Türkei nur als diesen wirklich gefährlichen Ort, von dem du dich fernhalten solltest", bestätigt Sana Dilanyan, eine junge Frau aus Eriwan.
    "Als ich das erste Mal dorthin gereist bin, hatten meine Eltern wahnsinnige Angst um mich. Sie haben mich alle zwei Stunden angerufen, um zu sehen, ob es mir gut geht."
    Umso überraschter waren Verwandte und Bekannte, als Sana schließlich gesund und munter aus der Höhle des Löwen zurückkehrte. Die Türkei, so lernte sie damals, ist noch mehr als nur das Land der Täter.
    "Alle haben mich gefragt: Ist es sicher dort? Wurdest du angegriffen? Waren die Türken nett? Kann man sich auf die Straße trauen?"
    Angst vor den Nachbarn
    Ist es sicher dort? Das war auch die erste Frage, die die Istanbulerin Gaye Cosar von ihrem Vater gestellt bekam, als sie ihrerseits beschloss, im Jahr 2015 nach Armenien zu reisen. Ein geradezu unerhörtes Unternehmen für eine Türkin! Schon die Vorbereitungen waren kompliziert.
    "Ich habe in Buchhandlungen, Antiquariaten und richtig großen Verlagen ein Buch über Armenien gesucht", erzählt Gaye, die als Journalistin und Übersetzerin arbeitet.
    "Man findet Bücher in allen erdenklichen Sprachen, selbst solche, die man überhaupt nicht erwarten würde. Aber über Armenien gibt es fast nichts! Nicht mal ein Lexikon. Das ist doch verrückt, immerhin ist das unser Nachbarland!"
    Mehr als 300 Kilometer gemeinsame Grenze teilen sich die Türkei und Armenien. Nur ein paar Minuten müsste man vom osttürkischen Igdir aus laufen, schon wäre man im armenischen Armavir.
    Faktisch ist der Weg sehr viel langwieriger, seit im Jahr 1993 die Grenzübergänge zwischen beiden Ländern geschlossen wurden. Wer die Nachbarn auf dem Landweg besuchen will, muss seitdem einen Umweg über Georgien oder den Iran machen.
    "Weil wir nicht einmal diplomatische Beziehungen haben, wissen viele Türken gar nicht, wie nah und auch ähnlich unsere armenischen Nachbarn uns sind", glaubt deswegen Zeynep Sungur von der Hrant-Dink-Stiftung in Istanbul. Die geschlossene Grenze, sagt sie, stehe auch symbolisch für den fehlenden Austausch zwischen den Menschen beider Länder.
    Das Verhältnis hinterfragen
    Die Hrant-Dink-Stiftung will genau das ändern. Mit dem von der EU geförderten Austauschprogramm Beyond Borders ermöglicht sie nun 18 armenischen und türkischen Stipendiaten ein halbes Jahr im Nachbarland zu leben und zu arbeiten.
    "Viele Menschen hinterfragen den jetzigen Zustand schon gar nicht mehr, die Grenze ist ja sowieso geschlossen. Sie denken, wenn es keine diplomatischen Beziehungen gibt, dann kann man auch sonst nichts aufbauen. Dieses Programm soll deswegen eine Brücke schlagen und zeigen, dass man die Barrieren überwinden kann, wenn man möchte."
    Die mehr als 60 Angebote für Stipendiumsplätze, die allein von türkischen Einrichtungen gleich im ersten Jahr der Ausschreibung bei der Hrant-Dink-Stiftung eingingen, zeigen, wie groß das Interesse am Austausch mit den Nachbarn ist. Universitäten, Nichtregierungsorganisationen, Medienhäuser, Verlage und Kunstgalerien am Bosporus warben um die jungen Akademiker aus Armenien. Sana Dilanyan aus Eriwan ist eine von ihnen. Sie wird für die nächsten sechs Monate in Istanbul leben und am Friedensforschungsinstitut der renommierten Bogazici-Universität tätig sein. Ein Perspektivwechsel - professionell wie privat:
    "Es ist eine einmalige Gelegenheit, von der einen Seite dieses Konflikts auf die andere zu wechseln und dort im gleichen Bereich weiter zu arbeiten, den man schon aus der Heimat kennt", schwärmt die junge Armenierin.
    Täglich neue Erkenntnisse
    "Außerdem ist es etwas ganz anderes, ob man als Touristin hierher kommt oder ob man hier arbeitet und wirklich Teil der Gesellschaft wird. Ich bin inzwischen seit drei Wochen in Istanbul und mein Türkeibild verändert sich jeden Tag mehrmals. Mit jeder Organisation, jeder Person und jedem Ort, den ich kennenlerne, entwickelt es sich weiter."
    Und auch die türkische Journalistin Gaye Cosar, die ihrerseits als Stipendiatin für ein halbes Jahr nach Armenien aufbricht, ist überzeugt, dass das Austauschprogramm die Nachbarn einander näherbringen wird. Wenn nicht auf politischer, dann zumindest auf privater Ebene.
    "Ich weiß, dass wir mit diesem Programm nicht die Welt verändern können. Aber mit dem, was wir Stipendiaten tun, sagen und schreiben, können wir wenigstens einige Menschen in unserem Umfeld zum Nachdenken anregen. Ich glaube, das ist ohnehin die einzige Möglichkeit, die uns bleibt. Denn weder der armenische noch der türkische Präsident werden plötzlich sagen, kommt, lasst uns Freunde werden."
    Im Gegenteil: Gerade im bevorstehenden Jahr 2015 erwarten viele, dass die Spannungen zwischen den beiden Nachbarländern nur noch weiter wachsen werden. Denn dann gedenken die Armenier weltweit der Katastrophe, der vor 100 Jahren Hunderttausende ihrer Vorfahren zum Opfer fielen. Persönliche Verbindungen, so das Credo der Istanbuler Hrant-Dink-Stiftung, dürften gerade dann umso wertvoller sein.