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Türkei und Armenien
Junge Wissenschaftler arbeiten Völkermord auf

Von Susanne Güsten |
    Wie mit dem Hämmerchen aufs Knie geschlagen tritt die offizielle Türkei aus, wenn sie auf den Völkermord an den Armeniern angesprochen wird. Reflexartig gerät die Regierung in Rage, die Opposition tobt mit, der Staatspräsident schimpft auf den Papst und die Verlautbarungen des Außenministeriums lassen jede diplomatische Höflichkeit vermissen. Wenn es um das G-Wort geht, wie der Begriff Genozid in der Debatte spöttisch umschrieben wird, dann brennen beim türkischen Staat alle Sicherungen durch. Von außen betrachtet könnte man meinen, eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Armenier und anderen anatolischen Christen im untergehenden Osmanischen Reich sei in der Türkei noch immer nicht möglich, das Thema auch nach 100 Jahren noch völlig tabu. Doch dieser Eindruck täuscht.
    Die interessantesten und wichtigsten Beiträge zur Erforschung des Völkermordes an den Armeniern kommen neuerdings von jungen türkischen Historikern, die in den Osmanischen Archiven forschen und keinerlei Berührungsängste mit dem G-Wort haben. Einer von ihnen ist Mehmet Polatel, der an der privaten Koc-Universität in Istanbul tätig ist und die Enteignung armenischen Besitzes während der Vertreibung erforscht. Die Eigentumsfrage sei keine Nebensache, sondern konstitutiver Bestandteil des Genozids, erläuterte Polatel kürzlich in einem Vortrag an der Amerikanischen Universität in Eriwan.
    "Die Enteignung begann nicht erst mit dem Genozid. Die Enteignung der Armenier ist vielmehr als ein wesentlicher Faktor der Motivation zum Völkermord zu sehen, der die Täter zum Genozid veranlasste."
    Detailliert schildet Polatel in seinen Büchern und Artikeln, wie der Besitz der Armenier ab 1915 planmäßig enteignet und verteilt wurde. Versorgt wurden damit zunächst muslimische Flüchtlinge vom Balkan und dem Kaukasus sowie die osmanische Staatskasse. Ein Teil des erbeuteten Reichtums wurde gezielt muslimischen Unternehmern zur Verfügung gestellt, um eine türkifizierte, nationale Wirtschaft zu schaffen. Einiges rissen sich örtliche Eliten zur persönlichen Bereicherung unter den Nagel, und ein weiterer Teil wurde schließlich an die Bevölkerung verteilt, um sie in die Vernichtung der Armenier einzubinden. Organisiert und sehr genau kontrolliert wurde das alles von der jungtürkischen Regierung, die den Prozess mit allerlei Gesetzen und Erlassen steuerte - und das schon seit dem Frühjahr 1915, wie Polatel betont. Diese "systematische Kontrolle" des Staates über die Enteignung der Armenier belege, dass es sich bei ihrer Deportation keineswegs um eine vorübergehende Umsiedlung gehandelt habe, sagt der türkische Historiker:
    "Einige Historiker versuchen, mit allen Mitteln zu beweisen, dass es sich bei den Umsiedlungen um eine vorübergehende Sicherheitsmaßnahme handelte und dass der Staat nie die Absicht hatte, die Armenier zu Schaden zu bringen. Aber die Tatsache, dass der Staat sehr detaillierte Planungen und allerlei gesetzliche Maßnahmen zur Aufteilung, Zuweisung und Verwendung des armenischen Besitzes erließ, zeigt ganz zweifellos, dass die Armenier in den Tod geschickt wurden. Schon bevor sie tot waren, wurde ihr Besitz verwaltet, als ob sie schon gestorben wären."
    Sein ausführlichstes Werk über diesen Aspekt des Völkermordes hat Polatel zusammen mit dem Historiker Ugur Ümit Üngör geschrieben, der über die Türkifizierung von Anatolien zulasten der alteingesessenen Minderheiten arbeitet. Die heute so erfolgreiche türkische Volkswirtschaft sei auf dem enteigneten Besitz der Armenier aufgebaut, sagt Üngör:
    "Das ist die Grundlage der türkischen Wirtschaft. Die Enteignung der Armenier war eine der größten Umverteilungen von Eigentum in der neueren Geschichte."
    Anders als der türkische Staat schrecken diese türkischen Wissenschaftler vor schmerzhaften Erkenntnissen nicht zurück. Der junge Politikwissenschaftler Ümit Kurt, der sich ebenfalls mit der Enteignung der Armenier im Rahmen des Völkermordes befasst, weist auf die Parallelen zum deutschen Nationalsozialismus hin:
    "Man kann einen ganz klaren Vergleich ziehen zwischen der Arisierung jüdischen Eigentums durch das Nazi-regime und der Türkifizierung und Enteignung armenischen Besitzes. Es gibt beträchtliche Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prozessen."
    Auch der Frage nach der Rolle der modernen Türkischen Republik und ihres Staatsgründers Atatürk geht der junge türkische Wissenschaftler nicht aus dem Weg:
    "Hinter der Türkifizierung armenischen Besitzes stand ein riesiges, enormes Rechtsgefüge, das von der Türkischen Republik und Atatürk übernommen worden ist. Diese ganzen Gesetze und Vorschriften sind von der Republik übernommen und aktualisiert worden."
    Ümit Kurt ist ebenso wie Mehmet Polatel oder Ugur Ümit Üngör nur einer von Dutzenden türkischen Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern und sonstigen Akademikern, die sich schon seit Jahren offensiv und konstruktiv mit dem Schicksal der Armenier in ihrem Land auseinandersetzen. Die meisten von ihnen forschen freilich nicht an staatlichen Universitäten, sondern an privaten Hochschulen - teilweise sogar an solchen Hochschulen, deren Mäzene ihren Reichtum dem einst staatlich zugeteilten Startkapital aus armenischem Besitz zu verdanken haben.
    Doch auch nicht alle Privatunis haben den Mut dazu. Einer Tagung mit dem Titel "Der Völkermord an den Armeniern", zu der sich Polatel, Üngör, Kurt und viele weitere gleichgesinnte Wissenschaftler am kommenden Sonntag in Istanbul treffen wollen, wurde von der dafür vorgesehenen Bilgi-Uni kurzfristig der Saal gestrichen. Der Tagungsort wurde nun verlegt an die Bosporus-Universität - das ist eine staatliche Universität. Sie bewegt sich nämlich doch.