Über die genaue Motivlage Russlands zu den Überflügen im türkischen Luftraum wisse man nichts, sagte Kaim. Doch würde Russland häufiger kurzzeitig in den NATO-Luftraum eindringen. Kaim vermutet, dass die russische Seite die "Vorwarnzeiten der hiesigen Luftabwehr" damit teste, um herauszufinden, wie schnell die entsprechende Luftabwehr reagieren könne.
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Sondersitzung des NATO-Rats am späten Nachmittag in Brüssel. Die Partnerstaaten stellten sich hinter die Türkei. Der russische Jet habe tatsächlich den türkischen Luftraum verletzt. Gleichzeitig versuchte NATO-Generalsekretär Stoltenberg, die Emotionen zu dämpfen.
Bei uns am Telefon ist nun Markus Kaim, Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Abend, Herr Kaim.
Markus Kaim: Guten Abend, Herr Kapern.
Kapern: Herr Kaim, Ankara reklamiert sein Recht, seine Grenzen zu verteidigen. Nun muss man aber annehmen, dass der russische Militärjet die Türkei ja gar nicht angegriffen hat, sondern nur türkisches Territorium überflogen hat, wenn überhaupt. Rechtfertigt so etwas einen Abschuss?
Kaim: Man muss es, glaube ich, in eine Perspektive setzen, und die Entwicklung der Ereignisse begann eigentlich schon im Oktober, wo wir mehrfach zu verzeichnen hatten das Eindringen von russischen Flugobjekten, bemannt wie unbemannt, in den türkischen Luftraum. Einzelne Flugzeuge sind in den türkischen Luftraum eingedrungen und eine russische Drohne. Damals hat die Türkei zwar nicht militärisch reagiert, vergleichsweise besonnen, aber politisch deutlich gemacht, dass sie das nicht hinzunehmen bereit sei. Die Eskalation hat viel früher begonnen und auch die Anrufung des NATO-Rates gemäß Artikel vier in dem Sinne, dass transatlantische Konsultationen stattfinden sollten, auch das hatten wir bereits im Oktober. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, glaube ich, diese Reaktion der Türkei, die in der Tat nicht darauf reagiert, auf einen bewaffneten Angriff, der die territoriale Integrität oder politische Souveränität der Türkei bedroht hätte.
"Da fügt sich der Einzelfall in ein größeres Muster"
Kapern: Warum überfliegen russische Piloten, Piloten im Jet oder auch Piloten am Steuerknüppel einer Drohne türkisches Territorium? Ist das eine Provokation, oder haben die sich verflogen?
Kaim: Die offizielle Lesart im Oktober war, dass die russischen Piloten sich angesichts des schlechten Wetters verflogen hätten, vom Weg abgekommen wären - eine Erklärung, die angesichts der Hochtechnologie, die in modernen Kampfflugzeugen verbaut wird, wenig überzeugend klingt. Aber ich glaube, es ist ein Agreement der Türkei und der russischen Regierung damals gewesen, das als eine Art Betriebsunfall zu deklarieren. Über die genaue Motivlage Russlands wissen wir natürlich nichts, aber auch da fügt sich der Einzelfall in ein größeres Muster, in einen größeren Zusammenhang. Wir stellen ja fest, dass nicht nur an der Südostflanke der NATO, sondern auch vor allen Dingen an der Nordostflanke der NATO, im Baltikum, Russland die Luftabwehr der NATO testet. Da stellen wir oft viel häufiger fest, dass es zu kurzzeitigen Überflügen von NATO-Territorium kommt, zu ganz kurzzeitigem Eindringen in den NATO-Luftraum, und die Vermutung steht dahinter oder liegt nahe, dass es der russischen Seite darum geht, die Vorwarnzeiten der hiesigen Luftabwehr zu testen, also konkret herauszufinden, wie schnell denn die entsprechende Luftabwehr in der Luft ist, wie diese reagiert und anderes mehr, und in dieses Muster würde sich das Verhalten der russischen Luftwaffe auch im Oktober und heute einfügen.
Kapern: Nun hat ja Moskau ein Dementi geliefert, das bei genauem Hinhören gar keines war. Aus Moskau war zu hören, das abgeschossene Flugzeug sei über syrischem Territorium abgeschossen worden. Aber Moskau hat nicht behauptet, dass das Flugzeug nicht zuvor über türkisches Territorium geflogen sei. Lässt sich eigentlich eine Flugroute zweifelsfrei anhand solcher Radarbilder nachweisen, wie sie Ankara heute vorgelegt hat?
Kaim: In der Tat: Sie sprechen ein ganz wichtiges Indiz an, dass die türkische Regierung heute Radarbilder vorgelegt hat. Ich kann die von außen nicht beurteilen, vor allen Dingen aus der Vergangenheit. Weniger bei Radarbildern, aber bei anderen Nachweisen oder vermeintlichen Nachweisen von Kriegshandlungen haben wir im Nachhinein festgestellt, in welchem Maße die technisch bearbeitet worden sind als Bilder von Raketen, Bilder von Flugzeugen. Von daher würde ich das nicht mehr als ein Indiz werten. Aber noch einmal: Politisch gesehen fügt sich das russische Verhalten in ein größeres Muster ein, und ohne dass ich hier Partei ergreifen will, so erscheint mir doch die türkische Lesart der heutigen Ereignisse ein wenig plausibler als die russische.
"Zwei Konfliktparteien aufeinandergeprallt, die die extremsten Pole der Syrien-Debatte darstellen"
Kapern: Andererseits muss man sagen, dass im Abschussgebiet auf syrischer Seite eine turkmenische Minderheit lebt, die Baschar al-Assad bekämpft und deshalb mehrfach von russischen Jets angegriffen worden ist. Gleichzeitig versteht sich die Türkei als Schutzmacht dieser Turkmenen. Ging es Ankara möglicherweise gar nicht um die Verletzung des Luftraums, sondern um die Gelegenheit, Russland mal zeigen zu können, was man von den Angriffen auf die Turkmenen hält?
Kaim: Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Vor allen Dingen ist, glaube ich, in der vergangenen oder vorvergangenen Woche auch der russische Botschafter in Ankara genau in dieser Frage einbestellt worden, weil die Türkei sich als eine Schutzmacht der turkmenischen Minderheit in Syrien begreift. Wobei ich glaube: Es ist schwer nachzuweisen und schwer einzuschätzen, ob das wirklich das treibende Moment der heutigen Ereignisse ist. Aber Ihr Verweis ist schon richtig. Man muss, glaube ich, den politischen Rahmen abstecken, in dem sich das Ganze bewegt, und dann sind heute zwei Konfliktparteien aufeinandergeprallt, die sozusagen die extremsten Pole der Syrien-Debatte darstellen: Die türkische Regierung, die keinen Hehl daraus macht, dass sie keine Zukunft für Präsident Assad in Syrien sieht, ihn als Erzfeind deklariert hat, die alles dafür tut, ihn aus dem Amt zu drängen, und auch bei den beiden Wiener Konferenz in den vergangenen Wochen unterstrichen hat, dass sie keine Rolle für Präsident Assad in diesem Transitionsprozess sieht, der angestrebt wird, und auf der anderen Seite haben wir die russische Regierung, die genau das Gegenteil tut, die vielleicht nicht so vehement die Person von Präsident Assad unterstützt, aber die doch deutlich macht, dass sie keinen Regimewechsel will, der als international induziert gelesen werden kann, und die zumindest der Entourage von Präsident Assad, sozusagen dem Regime Assad eine Schlüsselstellung auch in der Zukunft Syriens zuweist. Und losgelöst von den militärischen Ereignissen des heutigen Tages ist das doch der politische Rahmen, der das Ganze umgibt.
Kapern: Das heißt, der Syrien-Friedensprozess, der eigentlich noch nicht mal richtig angelaufen ist, der ist möglicherweise jetzt mit diesem Vorfall schon wieder beendet?
Kaim: Ich würde es so formulieren: Die Aufgabe, vor der der französische Präsident steht, oder die er sich selber gesetzt hat mit seiner Reisediplomatie in dieser Woche, das ist ja ohnehin schon die Quadratur des Kreises. Aus den unterschiedlichen Prioritäten, aus den unterschiedlichen Konfliktebenen, nämlich der lokalen, der regionalen und der globalen, sozusagen ein Verhandlungsmomentum herauszudestillieren, das ist ja schon nahezu unmöglich, angesichts der unterschiedlichen Prioritätenlagen. Und diese Charmeoffensive, die der russische Präsident nach den Pariser Anschlägen geöffnet hat, die ja zumindest den Eindruck erweckt hat, jetzt könnte sich eine Tür der Gelegenheit öffnen, die erlauben würde, zumindest ein international legitimes Handeln gegen den IS herzustellen, dieses Momentum scheint doch sehr schnell wieder zerschlagen zu sein.
Kapern: Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das Gespräch haben wir kurz vor unserer Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.