"Nein zum Ausnahmezustand, nein zur Verlängerung", und "Gesetz, Justiz, Gerechtigkeit"
Mehrere Hundert Demonstranten nahmen am Montag an einer Sitzblockade in Istanbul gegen die anstehende Verlängerung des Ausnahmezustandes teil. Ähnliche Proteste gab es nach Angaben der größten Oppositionspartei CHP in allen 81 Provinzen der Türkei. Kritisch beäugt von einem massiven Polizeiaufgebot, lobte die Istanbuler CHP-Provinzchefin Canan Kaftancıoğlu den Mut der Demonstranten:
"Alle, die heute gegen den Faschismus und an der Seite der Demokratie stehen. Gut, dass es euch gibt, gut dass ihr hier seid, ich heiße euch willkommen!"
Denn Demonstrationen sind die Ausnahme im Ausnahmezustand, der seit Juli 2016 ununterbrochen gilt.
Ausnahmezustand und Notstandsrecht
Kundgebungen werden fast nur noch dann genehmigt, wenn sie im Sinne der Regierung sind. Auch sonst bringt der Ausnahmezustand aus Sicht der Herrschenden viele Vorteile. Staatspräsident Recep Tayip Erdoğan kann per Notstandsdekret regieren. Bülent Tezcan, Vizevorsitzender der größten Oppositionspartei CHP sieht darin auch einen Hauptgrund für die angestrebte siebte Verlängerung:
"Diese Regierung ist süchtig nach dem Ausnahmezustand, sie ist abhängig davon und kann das Land ohne nicht regieren."
Co-Abhängig in diesem Sinne ist der Nationale Sicherheitsrat. Er hat am Dienstag empfohlen, den Ausnahmezustand um weitere drei Monate zu verlängern. Dass die AKP-Mehrheit im Parlament diesem Vorschlag heute folgen wird, daran lässt AKP-Vize Hayati Yazici keinen Zweifel. Denn der Kampf gegen PKK, Islamischen Staat und andere Terrororganisationen sei noch nicht zu Ende:
"Wenn die CHP meint, der Ausnahmezustand sei nicht mehr nötig dann sollen sie uns das sagen und wir können im Parlament anhand von Fakten darüber diskutieren. Also, die Regierung hat den Ausnahmezustand nicht grundlos verhängt und sie wird ihn auch nicht aus Spaß verlängern."
Auch wenn die Verlängerung offiziell mit dem andauernden Kampf gegen den Terror begründet wird - der Ausnahmezustand gehört abgeschafft denn er habe seinen Zweck schon lange erfüllt, meint Osman Isçi von der Menschenrechtsvereinigung IHD:
"Aus unserer Sicht war der Ausnahmezustand sinnvoll, um gegen Putschisten vorzugehen. Die meisten von ihnen sind längst verhaftet. Um aber gegen normale Staatsbedienstete oder andere Bürger zu ermitteln, ist der Ausnahmezustand nicht angemessen. Dafür verletzt er zu viele Grundrechte."
Etwa 150.000 Staatsbedienstete waren seit Beginn des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch im Sommer 2016 entlassen oder suspendiert worden. Seit Dezember letzten Jahres prüft eine Kommission ob das angemessen war. Von den 108.660 Anträgen, die der Kommission vorliegen, wurden bislang 12000 bearbeitet, und die meisten abgelehnt. Nur 310 Personen bekamen ihren Job zurück. Dass parallel dazu immer noch mehr als 150 Journalisten im Gefängnis sitzen, ist eine weitere Folge des Ausnahmezustandes. Wirtschaftsvertreter sehen mit jeder Verlängerung das Ansehen der Türkei weiter beschädigt. So warnte Tuncay Özilhan, Vorsitzender des mächtigen Industrieverbandes TÜSİAD schon bei der letzten Verlängerung im Januar:
"Es muss das letzte Mal sein, dass der Ausnahmezustand verlängert wird. Diese Maßnahme verunsichert ausländische Investoren und bremst den Zufluss von ausländischem Kapital."
Die Regierung lässt sich davon offenbar nicht beeindrucken.
Dauerzustand bis zur Wahl?
Möglicherweise endet der Ausnahmezustand erst nach der Einführung des Präsidialsystems nach der nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahl. Dann werden viele Maßnahmen regulär erlaubt sein, die heute nur im Ausnahmezustand möglich sind: Etwa das Regieren per Dekret. Die nächsten Wahlen könnten schneller kommen, als bisher geglaubt. Gestern brachte die nationalistische Partei MHP vorgezogene Wahlen schon Ende August ins Gespräch. Vielleicht auch, um den Ausnahmezustand nicht mehr so oft verlängern zu müssen.