Christine Heuer: Ziya Pir ist deutscher Staatsbürger mit kurdischen Wurzeln. Er ist von Duisburg nach Diyarbakir gezogen. Er ist Abgeordneter für die kurdische HDP im türkischen Parlament, ein klarer Vertreter der Opposition also. Ich habe ihn zu Beginn unseres Gesprächs gefragt, was er sich heute von Angela Merkel wünscht.
Ziya Pir: Ich wünsche mir von Frau Bundeskanzlerin, dass sie sich heute als aufrechte Demokratin und als eine Verfechterin der Rechtsstaatlichkeit vor den türkischen Staatspräsidenten stellt und endlich mal mit ihm Tacheles redet. Das wünsche ich mir.
Heuer: Reicht es, Herr Pir, wenn Angela Merkel das hinter verschlossenen Türen macht, oder muss das öffentlich geschehen?
Pir: Das muss endlich mal öffentlich geschehen. Wir wissen, sie war vor den Wahlen hier am 1. November 2015 mehrere Male, das letzte Mal zwei Wochen vor dem Wahltag. Da hat sie sich hinter verschlossenen Türen - ich weiß nicht, über was sie sich unterhalten haben. Aber was dann in der Öffentlichkeit besprochen wurde, das war eine Unterstützung für einen Diktator Erdogan, und das muss jetzt endlich mal ein Ende finden. Wir wünschen uns, dass sie nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in der Öffentlichkeit sich zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit bekennt und nicht zum Handlanger eines möglichen Diktators wird.
"Unsere Lage kann nicht mehr schlimmer gemacht werden"
Heuer: Würde das Ihre Lage nicht eigentlich sogar schwieriger machen, weil natürlich ein solches Verhalten Erdogan aufbringen würde?
Pir: Unsere Lage kann nicht mehr schlimmer gemacht werden. Unsere Immunitäten wurden aufgehoben, weil unter anderem Europa geschwiegen hat. Seit Freitagabend bis gestern Früh bin ich aus den Gerichtssälen nicht mehr rausgekommen, weil ich hatte zwar auch eine Verhandlung, aber mehrere Abgeordnete von uns immer wieder verhaftet, freigelassen, verhaftet wurden. Was kann da noch Schlimmeres passieren, als dass die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei total aufgehoben wird? Die Gewaltenteilung wird total aufgeweicht. Was Schlimmeres kann da gar nicht mehr passieren.
Heuer: Es ist unklar, hören wir, ob Angela Merkel auch Oppositionelle trifft. Sie könnte ja zum Beispiel eine Begegnung mit Ihnen planen. Das ist voraussichtlich nicht vorgesehen?
Pir: Das ist vorgesehen. Eine Delegation von uns, unter anderem unser Fraktions-Vizevorsitzender, der wird sich mit zwei weiteren Abgeordneten von uns heute Abend mit ihr treffen.
Heuer: Was erwarten Sie von diesem Treffen?
Pir: Ich glaube, sie macht das, um die Opposition im eigenen Land, in Deutschland etwas zu beruhigen. Weil ich weiß, dass die Opposition in Deutschland sehr vehement diesen Besuch kritisiert hat beziehungsweise den Zeitpunkt dieses Besuches kritisiert hat, weil das eine Unterstützung für das Referendum sein könnte, für Erdogan. Und sie haben sie auch kritisiert, weil sie zu diesen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei schweigt. Und ich glaube, das ist ein Zugeständnis an die Opposition in Deutschland.
"Möglichkeit, unsere Sicht der Dinge darzustellen"
Heuer: Ist diese Begegnung eine konkrete Hilfestellung für die Opposition in der Türkei? Noch mal die Frage: Was erwarten Sie sich davon, von dieser Begegnung Merkels mit Ihren eigenen Leuten?
Pir: Wir haben jetzt endlich mal die Möglichkeit, ihr unsere Sichtweise der Dinge darzustellen. Diese Möglichkeit haben wir. Das ist für uns sehr wertvoll, weil wir wissen, sie hat immer über offizielle Stellen in der Türkei Informationen, wenn überhaupt, dann über das türkische Außenministerium beziehungsweise die Regierung erhalten. Das sind einseitige Informationen. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Dinge klarzustellen heute Abend, und ich hätte mir gewünscht, dass sie sich zuerst mit uns trifft, damit sie im Laufe des Tages in den Gesprächen mit der Regierung beziehungsweise mit dem Staatspräsidenten eine Vorbereitung gehabt hätte.
Heuer: Es wird Bilder geben heute, die erwarten wir von Angela Merkel, Seite an Seite mit Recep Erdogan. Wird es auch Bilder von der Begegnung mit der Opposition geben? Werden Sie das öffentlich machen, oder findet dieses Treffen dann doch hinter verschlossenen Türen statt?
Pir: Die beiden Treffen, mit der größten Oppositionspartei CHP und dann mit uns, werden um acht Uhr beziehungsweise neun Uhr türkischer Zeit abends sein. Ich weiß nicht, welches Format da vorgesehen sein wird, ob Bilder davon in die Öffentlichkeit kommen werden oder nicht. Das weiß ich noch nicht.
Heuer: Welches Druckmittel hat Angela Merkel vor allem auf Erdogan?
Pir: Sie braucht gar keins. Sie sollte sich einfach zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stellen. Das würde erst mal reichen. Ich glaube, Druckmittel ist momentan auf der Seite von Erdogan. Weil in Deutschland gibt es jetzt im September Wahlen, Bundestagswahlen, und da muss sie ihre Erfolgsgeschichte vom Flüchtlingsabkommen aufrecht erhalten. Wenn Erdogan die Türen hier aufmacht, dann hat sie Probleme, dann wird sie noch mehr Stimmen vielleicht verlieren. Es ist eine verzwickte Situation auch für Frau Merkel. Man wirft ihr in Deutschland, glaube ich, auch hier in der Türkei übrigens vor, eventuell erpressbar zu sein, und sie hat keine gute Ausgangsposition.
"Erdogan wird das Treffen ausnutzen"
Heuer: Ist sie denn erpressbar? Ist Erdogan tatsächlich auf dem Sprung, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen? Ist das Ihr Eindruck?
Pir: Zumindest nützt es ihm politisch auf jeden Fall, da Frau Merkel und Europa die Stirn zu bieten, weil er braucht ja Stimmen. Er muss seine Stimmen in seiner Partei beziehungsweise bei den Ultranationalen konsolidieren, und dazu muss er ein bisschen sozusagen Tamtam machen in Richtung Europa. Jetzt hat er die Möglichkeit. Jetzt wird er sich hinstellen und sagen, ich habe ihr die Stirn geboten, und die Leute werden darauf anspringen und sagen, ja das ist der Mann, der soll Präsident werden. Das ist eine Unterstützung für das Referendum in der Türkei. Das wird er auf jeden Fall ausnutzen. Ob er dann tatsächlich das Flüchtlingsabkommen aufkündigen kann oder nicht, ich glaube, eher nicht. Aber er wird das zumindest politisch benutzen.
Heuer: Was müsste Angela Merkel heute tun oder sagen, um diesem Eindruck vorzubeugen, dass sie indirekt ungewollt Wahlkampf macht für Erdogan beim Referendum?
Pir: Sie hat den nächsten Schritt schon gemacht, um ihn zu unterstützen. Dieser Zeitpunkt ist sehr unglücklich, unserer Meinung nach. Er wird das richtig ausschlachten und benutzen. Die Medien, die sind ihm ja alle unterstellt, die werden das benutzen. Ich glaube, sie hat einzig die Möglichkeit in der Öffentlichkeit. Ich glaube, mit Erdogan zusammen wird es keine Presseerklärung geben, aber zusammen mit dem Regierungschef, da hat sie die Möglichkeit, in aller Öffentlichkeit sich zu diesen Menschenrechtsverhandlungen und Abschaffung der Demokratie in der Türkei zu äußern. Und das sollte sie, bitte schön, auch nutzen.
Heuer: Das alles, was wir gerade besprechen, Herr Pir, unterstellt ja, dass Angela Merkel tatsächlich eine große Bedeutung in der Türkei hat. Spielt sie für die türkische Bevölkerung tatsächlich eine so große Rolle?
Pir: Sie spielt für beide Seiten einmal eine positive und auch einmal eine sehr unglückliche Rolle in der Türkei. Für die Opposition bedeutet sie etwas Positives, weil Deutschland ist nun mal die Lokomotive in Europa und wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für Menschenrechte in der Türkei einsetzt, gegen Verhaftung von Oppositionellen einsetzt. Deutschland ist ein großes Land, was Druck auf die Türkei in dieser Hinsicht aufbauen kann. Und für die Gegenseite, die gegnerische Seite spielt sie auch eine große Rolle, weil man sie zur eigenen Propaganda hier missbrauchen kann. Insofern ist sie etwas erpressbar, muss man zugeben.
Heuer: Sie wagt einen schwierigen Spagat?
Pir: Ja.
"Wenn die Kurden nicht hingehen, wird es ein Ja im Referendum geben"
Heuer: Wir haben über das Referendum, Herr Pir, jetzt schon ansatzweise gesprochen. Das steht relativ kurz bevor, in wenigen Wochen ist es so weit. Wie, glauben Sie, geht das aus?
Pir: Es steht momentan so ungefähr fifty-fifty. Wir werden in den zwei, zweieinhalb Monaten jetzt gucken, was wir machen können, um die Nein-Stimmen zu vergrößern. Der Ausgang des Referendums wird abhängig sein davon, ob unsere Wähler, die Kurden in den kurdischen Gebieten in der Türkei, zur Wahlurne gehen dürfen oder nicht. Wir haben zehn bis zwölf Prozent Stimmenanteil in der Türkei und es steht um die 52 zu 48 beziehungsweise 51 zu 49 momentan für Ja. Wenn die Kurden nicht hingehen, dann wird es wahrscheinlich ein Ja geben. Wenn wir die Kurden dazu bewegen, zur Urne zu gehen, dann wird es wahrscheinlich ein Nein geben. Das Problem wird jetzt sein: Wie mobilisieren wir die Kurden, um an die Urne zu gehen? Das wird das Problem sein.
Heuer: Wie wollen Sie das machen? Was ist das Problem? Warum fürchten Sie, dass die Kurden nicht wählen gehen?
Pir: Die sagen, wir sterben, in diesem Präsidialsystem werden wir auch sterben, warum sollen wir überhaupt zur Wahl gehen. Wir werden Schwierigkeiten haben, sie zu motivieren. Zum zweiten ist es logistisch auch etwas schwierig, weil wir haben Ausnahmezustand in der gesamten Türkei, aber insbesondere in den kurdischen Gebieten. Da ist es kaum möglich, frei auf die Straße zu gehen momentan. Und in den ländlichen Gebieten werden die überhaupt gar nicht zu den Wahlen gehen können, weil sie unterdrückt werden, weil überall Polizisten und Soldaten mit schweren Waffen stehen und genau hingucken, wie die stimmen werden. Und da sagen die Leute, dann bleibe ich einfach zuhause.
Heuer: In Deutschland, Herr Pir, heißt es oft, die Türkei sei auf dem Weg in die Diktatur. Ist sie das nicht längst, eine Diktatur?
Pir: Sie ist das schon, de facto ist sie das schon. Nur jetzt wollen sie eine rechtliche Hülle dafür aufbauen und das machen sie mit dieser Verfassungsänderung. Das was jetzt momentan läuft und passiert, das wollen sie in eine rechtliche Hülle einbauen. Das ist alles eigentlich, was passiert. Ich habe übrigens in der Debatte über die Verfassungsänderung im Parlament gesagt, einen Vergleich zum Ermächtigungsgesetz 1933 in Deutschland hergestellt. Man kann die Parallelen exakt darstellen und es ist wirklich erschreckend, wenn man sie die 18 Punkte, Änderungspunkte hier anguckt. Die gleichen diesem Ermächtigungsgesetz von Hitler eins zu eins.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.