Es ist der 23. März - Deniz, eine Chemie-Studentin einer Istanbuler Elite-Uni, ist noch müde, als sie den Campus der Boğaziçi-Universität betritt. Sie holt sich einen Kaffee und will zu ihren Freunden, bevor die erste Vorlesung beginnt. Auf dem Weg über das Gelände wird sie plötzlich von zwei Männern eingeholt: Zivilpolizisten. Ohne jede Erklärung legen sie ihr Handschellen an und führen die junge Frau ab. Zurück bleiben Deniz‘ Freunde, die von ihrer Festnahme erst Minuten später erfahren - und eine halbe Tasse Kaffee.
Auseinandersetzungen wegen Aktion auf dem Campus
"Sie ist kein politischer Mensch und hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass man auch sie fassen würde", bemerkt Yaprak, Deniz‘ Freundin und Kommilitonin.
"Aber Deniz ist in den Foto- und Video-Aufnahmen vom Lokum-Vorfall zu sehen, da steht sie neben einer anderen Studentin, die politisch ist und auch protestiert hat", erklärt Yaprak. Mit "Lokum-Vorfall" meint sie eine Auseinandersetzung von zwei Studentengruppen ein paar Tage vorher. Unter dem Titel "Afrin Delight" hatten Studierende aus dem "Klub für islamische Studien" die türkische Süßigkeit Lokum auf dem Campus der Uni verteilt.
Die kleinen Zuckerwürfel sind eine Delikatesse und auch als "Turkish Delight" weltberühmt. Mit der Aktion wollte man der im Zuge der "Operation Olivenzweig" gefallenen türkischen Soldaten gedenken, heißt es von der Studentenorganisation, die der regierenden AKP nahe stehen soll. Das war genau einen Tag nachdem der türkische Generalstab verkündet hatte, die nordsyrische Stadt Afrin unter Kontrolle gebracht zu haben.
"Immer mehr Studenten haben sich darüber aufgeregt und angefangen, laut über die ‘Operation Olivenzweig’ zu diskutieren", sagt Batu, ein Soziologie-Student der Boğaziçi. Als es dann zu Rangeleien kam, mussten Sicherheitskräfte einschreiten.
"Da war die Lokum-Gruppe, die den Sieg in Afrin feierte und dann waren da die anderen, die das ethisch nicht korrekt fanden. Das waren übrigens ganz unterschiedliche Studenten: gläubige Muslime, Konservative, Linke, Liberale und Kommunisten."
Festnahmen an der Universität
Es gehe nicht um einen Streit zwischen Liberalen und Konservativen, sondern vielmehr um AKP-Befürworter auf der einen Seite und der Rest auf der anderen Seite. Nur einen Tag nach der Auseinandersetzung begannen die Festnahmen:
"An einem Morgen hat die Polizei in voller Montur und mit Gewehren um halb fünf einen Schlafsaal der Uni gestürmt. Abends sind sie dann durch die Bars in der Nähe gegangen und haben alle Ausweise kontrolliert. Und jeden Tag stehen Polizisten am Uni-Eingang und greifen Studenten ab."
"Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" lautet später der Vorwurf gegen alle.
"Manchmal haben die Beamten die Leute auch verwechselt. Die wenigen, die nach ein paar Stunden wieder freigelassen wurden, haben dann von massiven Einschüchterungsversuchen und groben, zum Teil gewaltsamen, Verhörmethoden erzählt", weiß Batu. Sein Mitbewohner Süleyman wurde neun Tage lang bei der Polizei festgehalten:
"Die Zeit in Gewahrsam war Psycho-Gewalt nonstop. Auch wenn es zu Beginn noch irgendwie ging – ab dem dritten Tag konnte ich nicht mehr. Das einzige, was ich wollte, war, dass diese Lokum-Sache geklärt ist. Ich wollte nur noch frei sein!"
Spaltung der Studierenden
Süleyman ist mittlerweile auf Bewährung frei, das heißt: Einmal pro Woche muss er sich bei der Polizei melden. Seinen Reisepass haben die Behörden eingezogen.
"Wie sie ihn gefunden haben, sinngemäß: Manche Kommilitonen haben Fotos von der Rangelei gemacht, später bei Twitter hochgeladen und darum gebuhlt, auf welchem Bild man die Protestler am besten erkennen kann", sagt Süleyman. Für ihn und viele andere ist das der wahre Eklat. Dass die Regierung sie versucht einzuschüchtern, sei nicht besonders überraschend. Aber dass Studenten sich gegeneinander der Presse und der Polizei ausliefern, das tut weh:
"Egal welche Meinung wir vertreten haben, wir haben als Studenten immer zusammengehalten. An der Boğaziçi-Universität geht es um Meinungsfreiheit und Toleranz. Wir nennen das die Boğaziçi-Kultur. Ich glaube so muss es sich in der DDR angefühlt haben, mit der Stasi und so. Wenn sogar die Kommilitonen einen verpetzen... ", sagt Batu. Wenige Tage nach dem Vorfall in der Uni meldete sich der Staatspräsident persönlich zu Wort. Der Boğaziçi-Uni legte er nahe, künftig stärker mit der Regierung zu kooperieren. Schon im Januar hatte der Staatspräsident beklagt, dass die Boğaziçi Uni versagt habe, denn dort berufe man sich nicht auf nationale Werte. Aus der Uni selbst gab es dazu bisher keine öffentliche Stellungnahme.
Das hat eine Welle der Empörung losgetreten. Aus dem Lokum-Streit ist so eine Terrorismus-Debatte: Wer protestierte, wird jetzt als Terrorist und Volksverräter gebrandmarkt. Es gibt nur noch schwarz und weiß. Batu schüttelt den Kopf. An seiner geliebten Uni, die bisher in der Türkei als eine der letzten Festungen für freies Denken galt, ist seitdem vieles anders.
"Wir haben Zivilpolizisten hier, die sogar unsere Handys kontrollieren dürfen. Protestaktionen oder kritische Diskussionen sind nicht mehr möglich, die wollen uns mundtot machen. Einige kommen schon gar nicht mehr zu den Vorlesungen, weil sie Angst haben, noch verhaftet zu werden",
gibt Yaprak zu. Dann grinst sie und sagt:
"Wir hatten viele Studenten, die vorher nicht politisch aktiv waren. Aber jetzt sind sie es und fangen an, sich zu organisieren."