Sedef Çakmak hat viel zu tun. Trotzdem nimmt sie sich Zeit für ein Treffen in einem Café in Besiktas, dem Arbeiter- und Studentenviertel Istanbuls. Abgehetzt sieht sie aus. Die dunklen Augenringe zeugen vom Stress der vergangenen Tage und Wochen. Es ist Wahlkampf in der Türkei. Das schlaucht.
Die 33-Jährige steht ganz besonders unter Druck: Sie ist die einzige Abgeordnete in der Türkei, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt. Für die kemalistische CHP sitzt sie im Stadtparlament von Istanbul. Politik für Lesben und Schwule, so wie in Westeuropa, kann sie dort nicht machen. Debatten über Anerkennung und rechtliche Gleichstellung der Homo-Ehe - undenkbar:
"Menschen hier begehen Selbstmord oder sie werden von ihren Familien umgebracht, wenn die rausfinden, dass sie homosexuell sind. Ich fühle mich immer noch unsicher, wenn ich die Straße heruntergehe. Meine Freundin will meine Hand in der Öffentlichkeit immer noch nicht halten."
Homosexualität gilt als psychische Krankheit
Homosexualität ist in der Türkei offiziell zwar kein Verbrechen, andererseits gibt es auch kein Gesetz, das die Rechte der Homosexuellen garantiert. Weitaus erdrückender als die Rechtslage sei aber ohnehin die gesellschaftliche Stigmatisierung. Sedef erzählt von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung in der Schule, in der Familie, am Arbeitsplatz. Viele Leute in der Türkei würden Homosexualität mit einer psychischen Krankheit gleichsetzen:
"Wenn jemand sein Coming-out hat, werden die Eltern mit ihm zu einem Psychologen gehen."
Immerhin, und das ist neu, findet das Thema inzwischen Platz im Wahlkampf. Vor allem die pro-kurdische HDP hat sich die Rechte aller Minderheiten, also auch der der Homosexuellen auf die Fahnen geschrieben. Die Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag, attestiert der türkischen Gesellschaft einen gewaltigen Nachholbedarf:
"Wir führen in der Türkei einen gewaltigen Kampf, damit auch diejenigen in der Verfassung anerkannt werden, die sich zu einer anderen sexuellen Orientierung bekennen. Das ist in der Türkei unglaublich schwer, da es eine tief-verwurzelte Homophobie gibt."
Gefängnis für homosexuelle Straftäter geplant
Wie tief verankert das Misstrauen gegenüber Homosexuellen, wie schizophren der öffentliche Umgang mit ihnen ist, wird am Verhalten der regierenden AKP deutlich. Widersprüchlich ist das Verhalten der religiös-konservativen Partei. Einerseits hat die frühere Ministerin für Frauen und Gesundheit Homosexualität öffentlich schon einmal als "Krankheit" gebrandmarkt, andererseits gibt es jetzt "Yirmi Doğru Cevap" – die "zwanzig wahren Antworten" gedruckt in großen Lettern auf Wahlkampfbroschüren der Partei.
Vor allem Punkt 17 überrascht: "Die Türkei ist offen für alle Menschen", heißt es da, "auch für Homosexuelle." Dazu ein Bild mit Regenbogenflaggen und bunten Menschenmassen, eine Aufnahme der "Gay Pride Parade", des Marsches für die Gleichberechtigung von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen in Istanbul. Vergangenes Jahr haben daran über 70.000 Menschen teilgenommen.
Cihan Hüroğlu hat die "Gay Pride" mitorganisiert. Er arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation in Istanbul. Die AKP als Verteidiger der Rechte von Schwulen und Lesben? Zunächst muss er darüber erst mal schmunzeln.
"Dass sie Fotos der Gay-Pride in Istanbul zeigen, finde ich positiv, auch deswegen positiv, weil sie die Verantwortung gefühlt haben, dass sie zu den Forderungen der LGBT-Bewegung was sagen sollen. Sie haben die Bewegung also nicht total ignoriert, sondern haben die Verantwortung gefühlt, etwas dazu zu sagen."
Kritiker warnen vor "gefährlicher Entwicklung"
Dass die AKP eine etwas andere Vorstellung von der Eingliederung homosexueller Bürger in die Gesellschaft hat, zeigt ein ganz anderes Vorhaben. In der Nähe von Izmir wird derzeit ein Gefängnis nur für homosexuelle Straftäter gebaut. 2017 soll es fertig sein. Vorgeblich soll es dazu dienen, Schwule und Lesben vor Diskriminierung zu schützen. Sedef Çakmak packt bei dem Gedanken an das Gefängnis das kalte Grauen:
"Am Schluss werden sie Gefängnisse für alle Minderheiten bauen. Für Homosexuelle, für Armenier, für Kurden. Diese Entwicklung ist einfach zu gefährlich."
Falls die AKP bei der Wahl noch mehr Stimmen bekomme, werde sie noch aggressiver gegen die schwul-lesbische Bewegung vorgehen, fürchtet Sedef Çakmak. Für einen kurzen Moment wirkt sie verzagt. Doch dann fasst sie wieder Mut:
"Man kann sein Leben nicht der Angst unterordnen. Man hat nur zwei Optionen. Entweder du fliehst oder du kämpfst. Und wir, die Aktivisten, haben uns schon lange dazu entschlossen zu kämpfen."