Steinberg sprach von einem "zynischen Kalkül" der Türkei. Es sei absurd, dass Ankara gegen die PKK vorgehe, denn gleichzeitig kooperiere der Bündnispartner USA mit der Tochterorganisation der verbotenen Arbeiterorganisation in Syrien im Kampf gegen den IS. Der Nahost-Experte sagte, es sei zu befürchten, dass die Ankündigung der Türkei, die PKK vollständig vernichten zu wollen, tatsächlich ernst gemeint gewesen sei.
Mit Blick auf das mögliche Luftangriffe von Frankreich und Großbritannien gegen den IS in Syrien betonte Steinberg: "Das ist ganz sicherlich keine Wende." Sie änderten nichts an der Situation. Die bisherigen Luftangriffe hätten den IS zwar geschwächt, aber es seien Bodentruppen notwendig, um die Terroristen aus ihren Hochburgen zu vertreiben. Die USA und Europa sollten allerdings keine Soldaten schicken, sondern auf sunnitische Araber vor Ort setzten.
Steinberg betonte, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad der Hauptverantwortliche sei "für all das, was hier passiert ist". Deshalb gehe es auch nicht nur darum, den IS zu bekämpfen, sondern auch darum, Assad zu entmachten. Dieser könne aber möglicherweise während eines Übergangsprozesses weiter regieren - auch wenn er nur noch über einen Rumpfstaat verfüge.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: In der Diskussion über den Umgang mit den Flüchtlingen, die nach Europa kommen, stehen im Moment immer noch Fragen im Vordergrund, die sich um die Erstaufnahme der Menschen drehen, wie viele kommen, wohin mit ihnen, wie können sie menschenwürdig untergebracht werden, wie registriert werden, ihre Asylgesuche bearbeitet werden und wie diejenigen, die kein Asyl bekommen, zurückgeschickt werden. In den Hintergrund gerutscht sind - zumindest aus deutscher Perspektive - die Fluchtursachen. Zwar steigen nach den bisherigen Finanzplanungen des Bundes in den nächsten Jahren die Entwicklungsausgaben. Das mag Probleme teilweise lösen. Aber was bringt das im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und den syrischen Bürgerkrieg, vor denen im Moment die meisten Menschen fliehen.
Frankreichs Luftwaffe greift jetzt auch in Syrien in den Kampf gegen die IS-Miliz ein. Mit Aufklärungsflügen in Syrien ist bereits begonnen worden, um mögliche Ziele für Luftschläge gegen den IS auszukundschaften. Und der britische Premierminister David Cameron will das Unterhaus über einen Militäreinsatz gegen den IS in Syrien abstimmen lassen. Unterdessen geht die Türkei gegen PKK-Stellungen im Nordirak vor. Wir haben es gerade gehört im Beitrag von Reinhard Baumgarten. Nach Anschlägen der PKK sind gestern türkische Bodentruppen über die Grenze in den Nordirak eingedrungen.
Über all das möchte ich jetzt sprechen mit Guido Steinberg. Er ist der Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik und er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Steinberg.
Guido Steinberg: Guten Morgen, Frau Kaess!
Kaess: Die Kurden, die gegen den IS kämpfen, sie werden immer stärker von der Türkei angegriffen. Wie sehr schwächt das den Kampf gegen den IS?
Steinberg: Das schwächt den Kampf gegen den IS enorm. Es wäre tatsächlich ungeheuer wichtig für den Kampf gegen den IS, aber auch für eine vielleicht etwas geordnetere Syrien-Politik der Amerikaner und auch der Europäer, dass die Türkei den Friedensprozess mit der PKK wieder aufnimmt. Es ist ja mittlerweile ein oft kommentierter Widerspruch in der Politik der Region, dass die Amerikaner Luftangriffe führen, während am Boden, koordiniert mit diesen Luftangriffen, der syrische Ableger der PKK gegen ISIS vorgeht, und dann ist es eigentlich nicht möglich, dass der Verbündete der USA, die Türkei, deren Mutterorganisation wiederum sehr, sehr brutal bekämpft.
Kaess: Sie sprechen vom Friedensprozess, aber der türkische Premierminister Davutoglu, der kündigt an, man werde die PKK auslöschen. Was müssen wir denn erwarten?
Steinberg: Es ist zu befürchten, dass Herr Erdogan und die türkische Regierung diese Ankündigung tatsächlich ernst meinen. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder klar gemacht, dass sie die PKK als die sehr viel größere terroristische Bedrohung ansehen als den IS, und jetzt lassen sie dem Taten folgen. Und wir müssen da eigentlich noch sehr, sehr viel stärker entgegenwirken, die Amerikaner und die Europäer, weil es in unserem Interesse ist, dass es zu diesem Ausgleich zwischen der PKK und der Türkei kommt. Der ist natürlich jetzt in weite Ferne gerückt. Ohne aber, dass diese Spannungen etwas abnehmen, ist es auch vollkommen unmöglich, tatsächlich eine effektivere Politik in Syrien, im Nachbarland Syrien zu führen.
"Aufgabe des Friedensprozesses ohne Not geschehen"
Kaess: Warum ist das so? Warum ist für die Türkei der schlimmere Feind immer noch die PKK und nicht der IS?
Steinberg: Ich halte das tatsächlich für absurd. Die PKK war und ist sicherlich eine Terrororganisation, aber es ist eben auch eine Organisation, die sich bereit erklärt hat, ihre eigenen Ziele zurückzuschrauben. Sie wollte ja früher einen unabhängigen Staat; jetzt ist nur noch von Autonomie für die Kurden-Gebiete die Rede. Und sie hat einen Verhandlungsprozess mit dem türkischen Staat begonnen. Ich halte tatsächlich diese Aufgabe des Friedensprozesses für ohne Not geschehen. Es gab keinen Anlass, der das gerechtfertigt hätte. Es hat immer mal wieder Brüche des Waffenstillstands durch beide Seiten gegeben in den letzten zwei bis drei Jahren. Ich denke ganz einfach, dass die Türkei die Entscheidung gefällt hat, dass dieser Friedensprozess nicht mehr in ihrem Interesse war, und ich glaube, dass der Anlass nicht so sehr die Innenpolitik war, wie das häufig gesagt wird, sondern vor allem, da der syrische Ableger der PKK mit amerikanischer Hilfe so große Geländegewinne im benachbarten Syrien erreicht hat. Das wollte die Türkei stoppen und deswegen hat sie einfach aus ganz zynischem Kalkül gesagt, wir beenden jetzt diesen Friedensprozess, der ist uns doch nicht so wichtig, wie wir immer wieder gesagt haben.
"IS kontrolliert weite Teile des Irak und Syriens"
Kaess: Jetzt soll es, Herr Steinberg, ein verstärktes Vorgehen gegen den IS durch Frankreich und eventuell auch bald durch Großbritannien geben. Ist das ein Tropfen auf den heißen Stein, oder kann das tatsächlich eventuell die entscheidende Wende im Kampf gegen den IS bringen?
Steinberg: Das ist ganz sicherlich keine Wende. Wir haben gesehen, dass seit dem Beginn der amerikanischen Luftangriffe im August beziehungsweise im September 2014 die Organisation IS ihre Kontrolle über weite Teile des Irak und Syriens hat konsolidieren können. Das heißt nicht, dass diese Luftangriffe ganz ohne Effekt waren. Die Organisation ist geschwächt worden, wichtiges Personal wurde getötet, vielleicht wurde auch eine weitere Ausbreitung verhindert. Aber letzten Endes ist es doch notwendig, den IS aus seinen Hochburgen zu vertreiben. Das wird mit Luftangriffen allein nicht geschehen, dazu braucht man Bodentruppen, vor allem Bodentruppen von vor Ort, also sunnitische Araber. Damit haben die Amerikaner im Irak schon in den Jahren 2006 bis 2008 große Erfolge gehabt. Ohne die wird es nicht gehen und deswegen ändern diese britischen und französischen Entscheidungen überhaupt nichts an der Situation.
Kaess: Aber die Scheu, Bodentruppen einzusetzen, ist ja sehr groß. Warum eigentlich?
Steinberg: Nun, weil es die Erfahrung der Amerikaner gibt im Krieg im Irak 2003 bis 2008. Da waren sie ja am Rand einer Niederlage gegen eine Vorgängerorganisation und deren Verbündete von IS. Deswegen ist es auch ganz richtig, keine amerikanischen, keine europäischen Bodentruppen zu schicken. Darauf wartet diese Organisation nur, weil sie sehr genau weiß, dass sie da einige Erfolgschancen hat. Die Amerikaner waren im Irak erst dann erfolgreich, als sie sunnitische Milizen gebildet haben, die sich gut auskannten in den Hochburgen der damaligen irakischen El-Kaida, die sich heute IS nennt. Und genauso müssen die Amerikaner auch hier wieder vorgehen. Das Problem ist, dass sie außer den syrischen Kurden bisher kaum Verbündete gefunden haben.
"Es gilt auch Assad von der Macht zu entfernen"
Kaess: Schauen wir noch auf mögliche politische Lösungen zum Schluss. Der iranische Präsident Rohani hat Verhandlungen angeboten. Er hat gesagt, er sei bereit, mit jeder Weltmacht zu sprechen. Damit ist die USA gemeint. Er hat aber gleichzeitig auf einen Friedensplan für Syrien verwiesen, der zusammen mit Russland entworfen wurde, und dieser bindet Präsident Assad als Teil der Lösung mit ein. Das lehnen die westlichen Staaten ja bisher als inakzeptabel ab. Gibt es eine Lösung ohne Assad?
Steinberg: Es ist tatsächlich nur ein ganz kleiner Hoffnungsschimmer, den wir da sehen. Dieser russisch-iranische Friedensplan, soweit er denn bisher bekannt ist, ist ja tatsächlich abgelehnt worden. Positiv ist allerdings, dass die Amerikaner, die Saudis, die Iraner, die Russen zumindest mal wieder im Gespräch sind. Das Problem an der Lösung, die sie jetzt vorschlagen, ist meines Erachtens tatsächlich, dass Assad ja der Hauptverantwortliche für all das ist, was hier passiert ist. Er ist für den weit überwiegenden Teil der mittlerweile mehr als 250.000 Toten dieses Bürgerkrieges verantwortlich und letzten Endes geht es darum, nicht nur ISIS zu bekämpfen, sondern tatsächlich auch Assad von der Macht zu entfernen und eine solche politische Lösung herbeizuführen. Ich persönlich hätte allerdings keine Probleme damit, wenn das in einem Übergansprozess geschieht. Deswegen sollte man dieses Angebot zumindest sehr, sehr genau prüfen.
Wir sollten uns allerdings darüber im Klaren sein, dass Herr Assad ja auch nur noch über einen Rumpfstaat im Westen und im Süden und im Zentrum Syriens herrscht. Selbst wenn es da zu einer politischen Lösung kommen sollte, dann wäre ja nicht gegeben, dass Syrien wieder ein einheitlicher Staat ist.
Kaess: … sagt Guido Steinberg. Wir müssen hier einen Punkt machen, denn wir laufen auf den Trailer und die Nachrichten zu. Vielen Dank, Guido Steinberg, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Steinberg: Ich danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.