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TGD-Vorsitzender Gökay Sofuoğlu
Erdoğan profitiert von Versäumnissen deutscher Politik

Erdoğans Anziehungskraft unter Türkinnen und Türken hierzulande habe auch mit Versäumnissen der deutschen Politik zu tun, sagt der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu. So konnte Erdoğan sich als Kümmerer inszenieren.

Gökay Sofuoğlu im Gespräch mit Stephan Detjen | 12.05.2023
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu.
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, glaubt, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken bei der Wahl am 14.5. für Präsident Erdoğan stimmen wird. (picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow)
Sollte die Opposition die Präsidentschaftswahl in der Türkei gewinnen, "wird es zu einem friedlichen Machtwechsel kommen“, prognostiziert der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoğlu, im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Am 14.5.2023 wird in der Türkei ein neuer Präsident gewählt, und erstmals seit 20 Jahren hat die Opposition echte Chancen auf einen Sieg.
Stimmberechtigt waren auch knapp 1,5 Millionen Türkinnen und Türken in Deutschland. Seit dem 9.5. sind die Wahlurnen hierzulande geschlossen, und es zeichnet sich mit etwa 50 Prozent unter den Wählern in Deutschland eine höhere Beteiligung ab als bei der vergangenen Wahl 2018. Damals lag die Wahlbeteiligung bei rund 43 Prozent, 64 Prozent stimmten für Erdoğan.

Schlechtes Erdbebenmanagement kostet Erdoğan Stimmen

Die Themen, die den Wahlkampf in der Türkei beherrschen, die wirtschaftliche Krise und die Inflation, spielten für die Türkinnen und Türken in Deutschland keine Rolle, so Sofuoğlu. „Sie profitieren sogar davon. Wenn in der Türkei die Lira einen schlechten Kurs hat, können sie mit dem, was sie hier verdienen, in der Türkei natürlich viel mehr erreichen, viel mehr kaufen.“
Doch das verheerende Erdbeben in der Türkei im Februar sei ein gewisser Wendepunkt gewesen. Viele hätten ihre Angehörigen nicht erreichen und auch keine Hilfe dorthin schicken können. Dies und das schlechte Krisenmanagement habe Erdoğan viele Stimmen und Sympathien gekostet, so Sofuoğlu. Die Erdbebenopfer seien noch immer in großer Not.

Erdoğan, der Kümmerer

Dennoch werde Erdoğan auch bei dieser Wahl - was die in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken betrifft - die Nase vorn haben, prognostiziert Sofuoğlu, wenngleich mit einem geringeren Stimmenanteil. Das liege daran, dass er sich in den 20 Jahren, in denen er in unterschiedlichen Funktionen die Türkei regiert hat, vor allem als „Kümmerer“ darstellen konnte, als jemand, der sich für die Belange der in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken einsetzt, als jemand, der ihnen eine neue Heimat gibt, so Sofuoğlu.
Es herrsche das Gefühl vor, „Erdoğan kümmert sich um uns, während die deutsche Regierung, die Regierung des Landes, in dem wir jetzt seit Jahrzehnten leben, sich gar nicht um uns kümmert", sagt der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

Erdoğan profitiert von Versäumnissen deutscher Politik

Dieses Sich-nicht-Kümmern zeige sich im Alltagsrassismus, in einer unvollständigen Aufklärung der NSU-Morde, aber auch bei der Ungleichbehandlung von Türkinnen und Türken gegenüber Deutschen bei Behörden, in Schulen und am Arbeitsplatz, so Sofuoğlu. Davon habe Erdoğan schließlich profitieren können.
Eine von der Ampelregierung geplante Reform des Staatsbürgerschaftsrechts soll in Deutschland lebenden Türkinnen und Türken die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen. Davon erhofft sich Sofuoğlu eine bessere Berücksichtigung ihrer Belange, weil sie dann auch in Deutschland wählen können und die Politik sich auch um ihre Interessen kümmern muss.

Das Interview im Wortlaut

Detjen: An diesem Sonntag ist Wahlsonntag: Bürgerschaftswahl in Bremen, aber –  ohne die Bedeutung des Bundeslandes Bremen geringzuschätzen – politisch sicher viel gewichtiger: Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei. Aufgerufen dazu waren auch knapp 1,5 Millionen Türkinnen und Türken in Deutschland. Weltweit richten sich die Augen vor allen auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl, denn Recep Tayyip Erdoğan kann sich dieses Mal nicht mehr sicher sein, dass er als Sieger aus dem Wettstreit gegen den Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu hervorgeht.
Welche Rolle spielen die Stimmen aus Deutschland für den Ausgang dieser Wahl? Wie gespalten ist die türkische Community in Deutschland, und was bedeutet dieses Wahl für sie? Über diese Fragen kann ich heute mit Gökay Sofuoğlu sprechen. Er ist einer der beiden Bundesvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, nach ihrer Selbstbeschreibung eine überparteiliche, nicht konfessionelle Organisation von Menschen. Sie gilt als eine der größten oder die größte Vertretung türkeistämmiger Menschen hierzulande. Willkommen im Deutschlandfunk, Herr Sofuoğlu.
Sofuoğlu: Gerne.
Detjen: Herr Sofuoğlu, die 16 Wahllokale in türkischen Konsulaten sind schon seit Dienstagabend geschlossen, und es zeichnet sich nach dem, was wir hören, eine höhere Wahlbeteiligung ab als bei der letzten Wahl 2018. Damals waren es nur rund 43 Prozent der wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Deutschland, die zur Wahl gegangen sind. Die Botschaft in Berlin spricht jetzt von deutlich über 50 Prozent. Was hat die Menschen dieses Mal so viel stärker auf die Beine und an die Urnen gebracht?

Beide Lager konnten Wähler mobilisieren

Sofuoğlu: Ich denke, natürlich die Spannung in der Türkei, weil es für sehr viele Menschen als Schicksalswahl gilt, sowohl die regierende Partei oder die Bündnisse um die regierende Partei, als auch die Opposition. Beide haben das schon lange als Schicksalswahl für die Türkei, für die Zukunft der Türkei deklariert, und deswegen haben sie auch ihre Wählerinnen und Wähler so mobilisiert. Dieses Mal war in Deutschland auch die Opposition sehr stark. Also, die haben auch Menschen mobilisiert, die bei den letzten Wahlen wahrscheinlich zu Hause geblieben sind, und deswegen ist die Wahlbeteiligung dieses Mal höher ausgefallen als in den vergangenen Jahren.
Detjen: Und würden Sie daraus ableiten, dass sich das auch im Ergebnis dann zugunsten der Opposition und des Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu auswirken wird? Das letzte Mal war es ja so, dass eine ziemlich deutliche Mehrheit der türkischen Wähler in Deutschland sich für Erdoğan ausgesprochen hat, über 60, etwa 64 Prozent waren das 2018.
Sofuoğlu: Ja, letztes Mal waren es natürlich mehrere Kandidatinnen und Kandidaten, die zur Wahl standen, und deswegen war die Opposition sehr zersplittert. Es sind ja die Stimmen zu mehreren Kandidaten gegangen. Dieses Mal ging es dann eher um zwei Kandidaten. Also es sind zwar vier Kandidaten, die zwei haben in Deutschland nicht unbedingt so eine große Bedeutung. Es ging dann um zwei, die Opposition hat sich dann hinter Kılıçdaroğlu gestellt. Ich glaube, das wird ein Name sein fast, der am Sonntag gewählt wird, auch für Medien in Europa, das zu entziffern. Also da hat er die Stimmen der Opposition auf sich gesammelt.
Also gerade die Konservativen, die Kurden, die Aleviten, also gerade sehr viele Spektren haben jetzt für Kılıçdaroğlu gestimmt und viele dann auch natürlich wie letztes Mal für Erdoğan. Ich gehe davon aus, dass Erdoğan in Deutschland wieder die Nase vorne hat, aber nicht mehr so stark wie jetzt bei der Wahl 2018.
Detjen: Was macht Erdoğan gerade für Türkinnen und Türken in Deutschland attraktiv? Wenn das auch bei diesem Mal so wäre, dann würde das ja einen Trend fortsetzen. Auch das letzte Mal war die Zustimmung zu Erdoğan in Deutschland proportional größer jedenfalls als in der Türkei selbst.

Erdoğan, der Kümmerer

Sofuoğlu: Ich denke, der Erdoğan hat jetzt in den 20 Jahren, seitdem er regiert in unterschiedlichen Funktionen, den Deutschland-Türken eine neue Heimat gegeben, also jemand, der sich um sie kümmert, der immer für sie da ist, der, wenn es darum geht in Deutschland, dass die Menschen Hilfe brauchen, dass er auch mit den ganzen Vertretungen, konsularischen Vertretungen oder auch mit den Vertretungen aus der Türkei immer bei den Menschen dabei war. Gerade das haben die Menschen vermisst in den vergangenen Jahren.
Dazu kam, dass Erdoğan in der Türkei natürlich an Infrastruktur sehr viel ausgebaut hat. Ich sage das immer an einem Beispiel: Damals, ein Mensch, der aus dem Südosten kommt und hier lebt, seine Familie besuchen wollte, hat zwei, drei Tage gebraucht, um überhaupt bei seiner Familie anzukommen. Der musste erst mal nach Istanbul fliegen und von dort aus mit dem Bus. Jetzt überall, in jeder Großstadt, wurde ein Flughafen gebaut, dass man sehr direkt in die Türkei fliegen kann. Und auch diese ganze Gesundheitsreform, die Deutschland-Türken immer mit dem Gesundheitszustand in Deutschland verglichen haben. Teilweise haben sie sogar gesagt, es ist besser. Der hat einiges verändert, was auch den Menschen hier gefallen hat, was dann die Zustimmung für Erdoğan gegeben haben.
Detjen: Das ist ja dann ein anderes Bild als das, was uns aus der Türkei berichtet wird, auch aus dem Wahlkampf dort, der, so berichten es unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten, überlagert ist von der Kritik an der Regierungsführung Erdoğans, geprägt ist von einer schwierigen Wirtschaftslage, einer starken Inflation und zuletzt ja auch von starker Kritik am staatlichen Krisenmanagement nach der Erdbebenkatastrophe im Februar. Das heißt, so wie Sie das schildern, sind diese Themen nicht oder nicht so nach Deutschland durchgedrungen.

Schlechtes Krisenmanagement kostet Sympathien

Sofuoğlu: Also die ersten Themen, diese wirtschaftliche Krise, Inflation, das spielt für die Menschen aus Deutschland keine Rolle. Die profitieren sogar davon. Wenn in der Türkei die Lira einen schlechten Kurs hat, können sie mit dem, was sie hier verdienen, in der Türkei natürlich viel mehr erreichen, viel mehr kaufen. Aber mit dem Erdbeben hat, denke ich, schon ein gewisser Wendepunkt angefangen. Also mit dem Erdbeben haben die Deutschland-Türken auch zum ersten Mal gemerkt, welches Krisenmanagement in der Türkei läuft, welche Politik in der Türkei betrieben wird.
Es sind sehr viele Angehörige in Deutschland, die ihre Familien nicht erreicht haben, die jetzt ihre Hilfe nicht so schnell genug zu ihren Familienangehörigen vor Ort hinbringen konnten. Da war eigentlich zum Anfang ein Umdenken über wirklich diese politische Führung in der Türkei, das hat natürlich Erdoğan sehr viele Stimmen, aber auch sehr viele Sympathien gekostet, und an dem hat er in den letzten Wochen versucht zu arbeiten, das wieder zu verbessern, aber die Erdbebenopfer sind immer noch in großer Not, und da haben sie natürlich auch sehr viele Familienangehörige hier, die diese Lage natürlich ganz genau anschauen.
Detjen: Das Bild von der Türkei unter Erdoğan ist hier in der Politik auch in den Medien sicherlich, weitenteils jedenfalls, geprägt von der Kritik an der Menschenrechtslage, an mangelnder Pressefreiheit, der Inhaftierung von Journalistinnen und Journalisten. Welche Rolle spielt das in der türkeistämmigen Community? Ist das ein völlig untergeordnetes Thema oder ein Thema von kleinen Gruppen?
Sofuoğlu: Das spielt natürlich innerhalb bestimmter Gruppierungen eine Rolle, vor allem Menschen, die jetzt aufgrund ihrer politischen Gesinnung, politischer Ausrichtung die Türkei verlassen haben oder nicht in die Türkei gehen oder ein anderes Bild von der Türkei haben. Die haben natürlich Probleme, aber auf der anderen Seite, Erdoğan-Anhänger, die sich eigentlich mit dem Thema gar nicht so richtig auseinandersetzen, Menschenrechtsfrage ist für die eigentlich eine zweitrangige Frage, bei denen geht es darum, dass die Türkei durch Führung von Erdoğan eine große Rolle, führende Rolle in der Region und manchmal auch in der Welt hat, dadurch, dass er zum Beispiel Straßen gebaut hat, Flughäfen gebaut hat.
Inzwischen hat er das erste türkische Auto jetzt in Betrieb genommen und diese Waffen, die jetzt in der Türkei in letzter Zeit produziert werden. Das sind dann eher für die Leute, für die Anhänger von Erdoğan eher wichtigere Gründe, Erdoğan zu wählen, und gerade die Menschenrechtsfrage in diesen Kreisen ist zweitrangig. Wenn es danach geht, also wenn es nach den Wählern von Erdoğan geht, ist die Türkei eigentlich das demokratischste Land in der Welt.

Die TGD ist überparteilich

Detjen: Ihre Organisation, Herr Sofuoğlu, die Türkische Gemeinde in Deutschland, ich habe es am Anfang gesagt, versteht sich als überparteiliche Organisation, aber Sie haben sich auch immer wieder kritisch zur Politik Erdoğans verhalten. 2017 hat sich die Türkische Gemeinde in Deutschland gegen die von Erdoğan betriebene Verfassungsreform und die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei ausgesprochen, die ja jetzt auch wieder Gegenstand des Wahlkampfes ist. Hat Ihre Organisation bei dieser Wahl, in diesem Wahlkampf, Partei ergriffen?
Sofuoğlu: Wir haben dieses Mal keine Partei ergriffen. Damals ging es auch um die Richtung der Türkei, also wie die Türkei regiert wird. Bei diesem Referendum sollte entschieden werden, ob die Türkei weiterhin eine Entwicklung, eine demokratische Entwicklung herbeiführen kann, oder ob die Türkei eher zu einer Autokratie sich entwickelt. Deswegen haben wir uns klar positioniert, wir wollen eine demokratische Türkei mit Gewaltenteilung, mit allen Menschenrechtsfragen, und dieses Referendum hat Erdoğan gewonnen, und in dieser Zeit, also seit diesem Referendum, sehen wir, dass die Türkei sich immer mehr von europäischen Werten verabschiedet hat, dass Gewaltenteilung eigentlich gar nicht mehr in der Türkei herrscht.
Deswegen geht es auch bei dieser Wahl um eine Entscheidung, weil die Opposition genau das rückgängig machen möchte und wieder zum parlamentarischen System zurückkehren will, aber das ist, wie gesagt, wiederum eine innerpolitische Diskussion.
Also wer dann die Türkei regiert, ist erst mal etwas, wo wir uns nicht direkt einmischen. Damals war die Frage eigentlich, wie die Türkei regiert wird, wie sich die Türkei entwickelt. Dieses Mal halten wir uns eher so ein bisschen vom Wahlkampf zurück. Es ist klar, es sind sehr viele Mitglieder von uns, die auch im Wahlkampf sehr aktiv mit dabei waren.
Detjen: Auf beiden Seiten?
Sofuoğlu: Auf beiden Seiten, also weniger natürlich auf Erdoğans Seite, mehr so Richtung Opposition, aber wie gesagt, es ist jetzt nicht unbedingt ein Beschluss der TGD gewesen, sondern das sind einfach Entscheidungen der Mitglieder.
Detjen: Sie selbst, Gökay Sofuoğlu, sind SPD-Mitglied, auch aktiv für die SPD, Mitglied im Gemeinderat von Fellbach bei Stuttgart. Wie ist Ihre persönliche Haltung? Setzen Sie auf einen Machtwechsel? Setzen Sie Hoffnung auf die Zukunft der Türkei, vielleicht unter einem anderen Präsidenten Kılıçdaroğlu?
Sofuoğlu: Also ich habe selber auch gewählt. Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Ich habe auch selber gewählt. Ich habe natürlich für die Opposition gestimmt aus Überzeugung, weil ich will, dass die Türkei ein Teil der Europäischen Gemeinschaft wird, der europäischen Familie wird, dass in der Türkei die Menschenrechte geachtet werden, dass die Türkei auf lange Sicht auch ein Mitglied der Europäischen Union wird, und das ist nur möglich natürlich, wenn sich die Türkei demokratisch entwickelt.

Starke Polarisierung der türkischen Gesellschaft

Detjen: Sie haben das ja eben mit so einem leichten Zögern gesagt, dass in Ihrer Organisation, in der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Anhänger beider Lager sind, Lager, die wir jetzt sehr polarisiert erlebt haben in diesem Wahlkampf in der Türkei und auch in Deutschland. Wie wirkt sich das in Ihrer Organisation aus? Spaltet diese Lagerbildung auch die Türkische Gemeinde in Deutschland?
Sofuoğlu: Also wir haben das Thema ja auch in der Vergangenheit, als es um das Referendum ging, also viele andere Themen. Wir haben die Themen immer wieder bei uns besprochen, und TGD versteht sich eigentlich als ein Verband der Vielfalt. Wir legen großen Wert darauf, dass diese Vielfalt bewahrt wird, und deswegen wird kein Druck ausgeübt, wenn andere anderes meinen.
Wenn es darum geht, dass wir als TGD, als Verband Stellung nehmen, dann wird natürlich in unseren Gremien das Ganze diskutiert. Dieses Mal ging es darum, dass wir uns parteiisch nicht äußern, sondern dass wir eher die Menschen dazu bewegen, zur Wahl zu gehen und ihre Stimmen abzugeben, wenn sie denn für Veränderungen in der Türkei sind. Das war dann für die Menschen, für die Mitglieder okay. Wie gesagt, unabhängig davon haben sie sich ja auch in ihren Lagern aktiv engagiert.
Detjen: Aber ich frage: Geht das noch und wie geht das in einer so polarisierten Stimmung, die man ja auch in Deutschland erleben konnte? Das haben unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten von Wahlveranstaltungen berichtet. Ich habe es selbst bis zuletzt vor dem Konsulat in Berlin gesehen, wo sich bis zum Schließen der Wahllokale am Dienstagabend Anhänger beider Lager gegenüberstanden in einer, ich würde sagen, ziemlich feindseligen Stimmung, von einem großen Polizeiaufgebot voneinander getrennt. Ist das eine Stimmung, in der man auch als Organisation noch Brücken schlagen kann?
Sofuoğlu: Es gibt ja zwei Lager. Einmal natürlich TGD als Verband, der sich eigentlich eher mit den Belangen hier beschäftigt. Also wir halten uns grundsätzlich aus der innenpolitischen Situation der Türkei zurück, und wir haben uns in letzter Zeit sehr viel, gerade mit Staatsbürgerschaftsgesetz beschäftigt und haben sehr viel Kontakte zu Politik, zu der Regierung, zu den Landesregierungen. Das ist eigentlich unsere Intention, und unsere Mitglieder haben das auch akzeptiert.
Also gerade die Türkeithemen können unseren Verband nicht spalten, aber es gibt natürlich eine andere Community, die sich dann sehr viel eigentlich, die sich nur noch über die Türkeipolitik definiert, entweder für oder gegen, und die Spaltung ist eher innerhalb dieser Gruppierung.
Also unsere Mitglieder, ich habe selber mitbekommen, unsere Mitglieder, die sowohl Regierungslager als Oppositionslager gewählt haben, sind gemeinsam zur Wahl gegangen, haben sie gemeinsam gewählt. Sie haben sogar Fotos gemacht, gepostet. Das ist eigentlich auch so ein bisschen für mich ein Vorbildcharakter für dieses friedliche Zusammenleben der Lager, weil die türkische Community auch in der Türkei wirklich sehr, sehr gespalten ist, dass diese Lager eigentlich gar nicht miteinander reden.

Stimmen aus Deutschland können wahlentscheidend sein

Detjen: Das Deutschlandfunk-Interview der Woche mit dem Co-Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu. Herr Sofuoğlu, wenn die Wahlen wie vorhergesagt, knapp ausgehen, vielleicht erst in einer Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten, könnte es sein, dass dann die Stimmen, die Türkinnen und Türken in Deutschland ausgeben, die entscheidenden Stimmen sind?
Sofuoğlu: Also die werden jetzt eigentlich auch schon die entscheidende Stimme sein, weil es jetzt um ein Kopf-an-Kopf-Rennen geht, wobei sich natürlich in der Türkei die Situation sehr schnell verändert. Heute habe ich erfahren, dass einer von diesen vier Kandidaten zurückgetreten ist, der ja eigentlich für die Opposition auch angetreten ist. Da werden die Karten neu gemischt. Also das kann am Sonntag alles natürlich passieren. Deswegen kann man keine Prognose erst mal gar nicht stellen, aber wenn die Wahl knapp ausgeht und es eine Stichwahl gibt, das wird dann auch, glaube ich, für die Deutschland-Türken eine sehr spannende Zeit sein.
Detjen: Und wenn diese Stimmen für die Türkei für den Ausgang dieser Wahl so wichtig sind, ist es erstaunlich, dass dieser Wahlkampf für die breite Öffentlichkeit in Deutschland weniger wahrnehmbar war, als man das früher erlebt hat. Es gab frühere Wahlkämpfe, wo Erdoğan in Deutschland aufgetreten ist, wo mehr als 15.000 Menschen in der Köln-Arena 2008, 2014, 2016 im Vorfeld des Verfassungsreferendums waren. Die Bundesregierung hat das seitdem nicht mehr erlaubt. Was würden Sie sagen: Durfte es keinen offenen, keinen offeneren Wahlkampf in Deutschland geben? Oder wollten türkische Politiker nicht mehr so wie früher um Stimmen in Deutschland werben?
Sofuoğlu: Also ich weiß, dass es so ein gegenseitiges Einvernehmen war zwischen der Türkei und Deutschland, dass große Wahlveranstaltungen hier ausbleiben. Das wurde uns vor einigen Monaten beim Außenministerium auch gesagt, was auch aus meiner Sicht sinnvoll ist, weil diese großen Wahlkämpfe in der Türkei, das hat in Deutschland bisher immer die Menschen gespalten. Die deutsche Öffentlichkeit hat sehr viel darüber geredet. Ich musste sehr viel Stellung nehmen. Also ich war bisher dieses Mal eigentlich froh, dass ich über die türkische Wahl nicht so oft gefragt worden bin, sodass das Thema der Türkei eigentlich allgegenwärtig in der Öffentlichkeit war. Dieses Mal ist es zurückgeblieben. Und dennoch sieht man, dass die Motivation und die Mobilisierung so stark waren, dass die Beteiligung natürlich höher geworden ist, ohne jetzt, wie gesagt, diese ganze Polarisierung in der deutschen Öffentlichkeit.

Doppelte Staatsbürgerschaft könnte integrativ wirken

Detjen: Sie haben eben gesagt, dass Sie selbst zur Wahl gehen konnten, weil Sie die doppelte Staatsangehörigkeit haben. Damit gehören Sie zu einer Minderheit der Türken in Deutschland. Etwas 280.000, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sind das, die die doppelte Staatsangehörigkeit haben. Es sollen mehr werden nach der von der Ampelkoalition geplanten, nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die auf den Weg gebracht worden ist. Bisher haben, weil man in der Regel die türkische Staatsbürgerschaft abgeben musste, nur wenige der Berechtigten von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich in Deutschland einzubürgern und dann auch in Deutschland zu wählen. Gehen Sie davon aus, dass wenn es zu dieser Reform der Staatsbürgerschaft in Deutschland kommt, viel mehr Türkinnen und Türken, so wie Sie, in Deutschland und bei türkischen Wahlen zur Wahl gehen?
Sofuoğlu: Das wird wohl der Fall sein. Es werden viel mehr Doppelbürger sein, also mit den doppelten Staatsbürgerschaften. Da ist natürlich wichtig, jetzt gerade auch die deutsche Politik ist herausgefordert, gerade diese Menschen für die Belange hier, für die Parteien hier, für die Politik hier zu gewinnen. Ich denke, dass die deutsche Politik bisher in der Richtung nicht genug getan hat, und da geht es wirklich darum, wie wertvoll diese Menschen, die jetzt, wenn dieses Staatsbürgerschaftsgesetz geändert wird, schnell deutsche Staatsbürger werden, wie wertvoll die Stimmen dieser Menschen sind und natürlich auch mit ihren Bedürfnissen, mit ihren Forderungen. Deswegen ist die deutsche Politik, denke ich, sehr gefordert, diese Menschen mit anderer Öffentlichkeit neu zu erfassen.
Detjen: Was leitet sich daraus an Forderungen an die deutsche Politik, an Erwartungen ab, wenn wir eine Gruppe in den Blick nehmen, die Sie ja gerade geschildert haben, auch gerade junge Türkinnen und Türken, die sich ganz besonders stark mit Erdoğan identifizieren, die sich sehr stark als türkische Staatsbürger verstehen, wenn die dann die Möglichkeit haben, deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu werden?
Sofuoğlu: Erst einmal hat man die Diskussion nicht entweder-oder, die Diskussion, dass den Menschen auch dieses Gefühl noch mal vermittelt wird, hierher zu gehören, auch wenn sie die türkische Staatsbürgerschaft haben. Das zeigt, das wird natürlich auch ein erster Schritt zu mehr Interesse und eventuell auch zu mehr Teilhabe kommen. Deswegen ist diese Gesetzgebung, wenn es dann verabschiedet wird, für sehr viele Türkeistämmige sehr wichtig, weil man seit Jahren darauf gewartet hat. Das war auch öfter eine Trotzreaktion von sehr vielen, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht beantragt haben, weil man die alte abgeben musste, das erst einmal.
Detjen: Entschuldigen Sie, wenn ich dazwischenfragen darf: Kann man das so sagen, dass Erdoğan davon profitiert hat?
Sofuoğlu: Der hat davon profitiert. Deswegen hatte ich ja am Anfang gesagt, er hat sich dann als Kümmerer dargestellt, was auch von sehr vielen Türkeistämmigen angenommen worden ist. Erdoğan kümmert sich um uns, während die deutsche Regierung, die Regierung des Landes, in dem wir jetzt seit Jahrzehnten leben, sich gar nicht um uns kümmert.
Dieses Sich-nicht-Kümmern geht natürlich auch über viele Facetten, einmal angefangen natürlich dieser ganze Alltagsrassismus, was man immer noch erlebt, und NSU-Morde, die aus der Sicht der türkeistämmigen Community, aber auch aus meiner Sicht nicht richtig aufgeklärt worden sind, und ungleiche Behandlung in den Behörden, in den Schulen, am Arbeitsplatz.
Es sind so viele Faktoren, wo das Gefühl bei den Menschen hier entsteht, nicht hier zugehörig zu sein. Deswegen sagte ich, die deutsche Politik ist gefordert, genau da noch mal zu forschen, welche Bedürfnisse haben diese Menschen, welche Forderungen haben diese Menschen, wie geht man auf diese Forderungen ein, und das passiert in manchen Bereichen.
Auf der kommunalen Ebene sehe ich einfach eine Bewegung, dass in den Kommunalparlamenten jetzt immer mehr so eine Vielfalt herrscht. Es muss einfach noch mehr und vor allem jetzt Menschen im öffentlichen Dienst, in Entscheidungsgremien mit Migrationsgeschichte, es braucht natürlich eine gewisse Zeit, aber man muss auch diesen Schritt erst mal wagen.

Mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in hohen Ämtern

Detjen: Sie haben darauf verwiesen, dass sich da ja schon einiges getan hat. Man könnte jetzt darauf verweisen, es gibt in dieser Bundesregierung einen türkeistämmigen Bundesminister. Es gibt eine türkeistämmige Bundestags-Vizepräsidentin. In dem Bundesland, in dem Sie leben, auch politisch aktiv sind, gibt es eine in der Türkei geborene Landtagspräsidenten in Baden-Württemberg. Wenn Sie mal zurückdenken, zehn, 15, 20 Jahre, ist das mehr oder immer noch weniger, als Sie sich als Entwicklung in Deutschland erhofft und erwartet haben?
Sofuoğlu: Im Gegensatz zum Beispiel zu der alten Regierung haben wir viel mehr migrantische Vertretung in der Bundesregierung. Das ist so, und auch in den Landesregierungen sehe ich, dass da mehr Vielfalt herrscht. Im Gegensatz zu früher ist das wenig, aber dennoch ist das ein Riesenschritt und ein richtiger Schritt.
Was mich natürlich auch sehr freut, dass die migrantische Vertretung in den Parlamenten jetzt nicht nur für Integrationsfragen zuständig sind. Wir haben ja in Baden-Württemberg, ich komme ja aus Stuttgart, auch den Wirtschaftsminister mit türkischer Herkunft, die Landtagspräsidentin natürlich, und ich freue mich, dass Cem Özdemir Agrarminister in Deutschland ist und für deutsche Kartoffeln zuständig ist.
Das sind Bilder, die sich auf jeden Fall noch in Deutschland setzen müssen, dass Migranten jetzt nicht nur Migrantenthemen bearbeiten, sondern auch viele andere Themen, und ich freue mich, dass zum Beispiel jetzt in manchen Großstädten auch Menschen mit migrantischer Geschichte Oberbürgermeister werden, wie neulich jetzt in Frankfurt.
Detjen: Jetzt warten wir, Herr Sofuoğlu, alle gespannt auf die Verkündigung der Wahlergebnisse in der Türkei. Wenn es knapp wird, wenn es zu einem knappen Machtwechsel oder zu einem knappen Vorsprung des Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu kommen sollte, gehen Sie davon aus, dass es dann in der Türkei einen friedlichen Machtwechsel geben wird? Oder sind Sie besorgt, dass es zu Spannungen, möglicherweise zu Gewalt kommen wird?
Sofuoğlu: Ich denke, es wird zu einem friedlichen Machtwechsel kommen. Es ist klar, wenn der Vorsprung höher ist, dann wird es noch deutlicher. Ansonsten werden wir wahrscheinlich die Situation wie in Istanbul vor vier Jahren erleben. Nach der Kommunalwahl in Istanbul wurde die Wahl ja noch mal wiederholt. Da gab es Spannungen, aber inzwischen sehe ich, dass vor allem die Opposition schlau genug ist, dass sie sich nicht alles gefallen lässt, aber ich gehe davon aus, dass es zu einem friedlichen Machtwechsel kommen wird.
Detjen: Herr Sofuoğlu, vielen Dank für Ihre Zeit.
Sofuoğlu: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.