Bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan blieb mit rund 49,5 Prozent der Stimmen unter den erforderlichen 50 Prozent und muss sich dem Anführer des Oppositionsbündnisses Kemal Kılıçdaroğlu erneut in einer Stichwahl stellen. Diese wurde für den 28. Mai angesetzt.
Wie ging die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei aus?
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 14. Mai 2023 hat Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan nach Angaben des Hohen Wahlausschusses (YSK) 49,52 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Sein Herausforderer von der oppositionellen kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, erreichte 44,88 Prozent. Sinan Oğan, der dritte Bewerber um das Amt, erhielt 5,17 Prozent der Stimmen. In Umfragen vor der Wahl hatte Kılıçdaroğlu noch vor Erdoğan gelegen.
Weil kein Kandidat eine absolute Mehrheit erreichte, sollen die Wählerinnen und Wähler am 28. Mai in einer Stichwahl über die beiden Bestplatzierten abstimmen. Dann reicht eine einfache Mehrheit. Da Sinan Oğan politisch sehr weit rechts steht, wird allgemein damit gerechnet, dass seine Anhänger bei der Stichwahl eher zum amtierenden Präsidenten Erdoğan tendieren.
Oğan selbst hat inzwischen erklärt, Erdoğan zu unterstützen. "Ich rufe die Wähler, die im ersten Wahlgang für uns gestimmt haben, auf, im zweiten Wahlgang für Erdoğan zu stimmen", sagte er in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache. Damit steigen die Chancen auf einen Wahlsieg für Erdoğan weiter.
Kemal Kılıçdaroğlu geht wiederum mit der Unterstützung der Rechtsaußenpartei Zafer Partisi in die Stichwahl. In einer gemeinsamen Erklärung hieß es, man habe sich auf die Rücksendung "aller Flüchtlinge und Illegalen" innerhalb eines Jahres geeinigt. In einem offensichtlichen Versuch, nationalistische Wähler für die Stichwahl zu gewinnen, hatte Kılıçdaroğlu zuletzt seinen Tonfall verschärft und versprochen, Flüchtlinge zurückzuschicken, falls er gewählt werde.
Insgesamt waren 64 Millionen Menschen wahlberechtigt. Davon nahmen rund 87 Prozent an den Wahlen teil. Auch rund 3,4 Millionen im Ausland lebende türkische Staatsbürgerinnen und -bürger konnten ihre Stimme abgeben, darunter 1,5 Millionen Menschen in Deutschland.
Die Wahlen sollten eigentlich im Juni stattfinden, doch Erdoğan hatte sie per Dekret auf den 14. Mai vorgezogen. Bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zum Parlament setzte sich ein von Erdoğans islamisch-nationalistischer AKP geführtes Bündnis durch – dabei ist auch die extrem rechte MHP. Weil in der Türkei eine Sperrklausel in Höhe von sieben Prozent gilt, schließen sich Parteien zu Wahlbündnissen zusammen.
Wie wichtig sind die Wahlen für die Zukunft der Türkei?
Die Wahlen in der Türkei galten im Vorfeld als richtungsweisend. Das bezog sich vor allem auf die Frage, ob der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wiedergewählt wird. Mit ihm verbunden ist die Einführung des Präsidialsystems im Jahr 2017, mit der das Parlament entmachtet wurde und der Präsident weitreichende Befugnisse erhielt. Das erklärte Ziel eines von CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu angeführten Oppositionsbündnisses ist es, das rückgängig zu machen und das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen.
Kritiker werfen AKP-Chef Erdogan vor, autoritär zu regieren. Inzwischen hat der 69-Jährige nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens - Verwaltung, Staatsapparat, Justiz, Polizei - unter seine Kontrolle gebracht, wichtige Posten wurden mit Vertrauten besetzt. Tausende politische Gegner wurden inhaftiert oder mussten das Land verlassen; Proteste wie 2013 wurden gewaltsam niedergeschlagen. Außerdem führt das NATO-Land Krieg gegen die kurdische PKK, dabei greift die Armee völkerrechtswidrig Ziele in den Nachbarländern Syrien und Irak an.
Was waren die wichtigsten Themen des Wahlkampfs?
Momentan hat die Türkei vor allem mit den Folgen des verheerenden Erdbebens im Februar dieses Jahres zu kämpfen. Dabei kamen rund 50.000 Menschen ums Leben, nach Angaben der türkischen Regierung mussten bislang 3,3 Millionen Menschen das Erdbebengebiet verlassen.
Nach Schätzungen der Europäischen Investitionsbank werden für den Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und Infrastruktur mindestens 100 Milliarden Euro benötigt, die wohl nur mit ausländischer Hilfe aufzubringen sind.
Humanitäre Hilfe erreichte die Menschen in den zerstörten Orten erst spät. Neben dem mangelhaften Krisenmanagement standen die Behörden auch wegen der unzureichenden Einhaltung und Überwachung des Erdbebenschutzes bei neu errichteten Gebäuden in der Kritik.
Schon vor dem Beben befand sich die Türkei in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Dazu gehört die sehr hohe Inflation. Nach einem Höchststand von fast 80 Prozent im vergangenen November lag sie laut der staatlichen Statistikbehörde im April immer noch bei rund 44 Prozent. Ökonomen sehen die Realinflation sogar bei mehr als 100 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, viele junge Menschen sehen keine Perspektiven.
Außerdem sind viele Geflüchtete in der Türkei untergekommen, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Aktuell sind es nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 3,6 Millionen Vertriebene aus Syrien sowie knapp 320.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, hauptsächlich aus Afghanistan und dem Irak. Kemal Kılıçdaroğlu spricht sogar von zehn Millionen Geflüchteten, die er bei einem Wahlsieg sofort in ihre Heimat zurückschicken will.
Sind die Wahlen in der Türkei fair verlaufen?
Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats haben die Abstimmung am 14. Mai verfolgt. Der Leiter der Delegation des Europarats, Frank Schwabe, sagte anschließend, die Türkei habe die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht erfüllt. So habe es unter anderem bei der Stimmenauszählung an Transparenz gefehlt.
Bereits am Wahlsonntag waren Unregelmäßigkeiten gemeldet worden. So sei eine Delegation der deutschen Linkspartei im Südosten der Türkei von bewaffneten Kräften daran gehindert worden, ein Wahllokal zu betreten. Ähnliche Fälle soll es auch andernorts gegeben haben.
Insgesamt waren Hunderttausende inländische Beobachter der verschiedenen Parteien und anderer Organisationen am Wahlsonntag im Einsatz. So begleiteten 600.000 Anhänger der Opposition die Stimmabgabe in den Wahllokalen. Bereits im Vorfeld war kritisiert worden, dass Staatspräsident Erdoğan in den meisten Medien deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten hatte als seinen Kontrahenten.
rzr, ahe, dpa, afp