Unter den Deutschtürken herrscht in diesen Tagen ein Gefühl vor: Angst. Das beobachtet der Dokumentarfilmer und Sprecher des Kultur Forums "TürkeiDeutschland", Osman Okkan:
"So eine Stimmung von Angst habe ich noch nie erlebt und viele Berichte, die uns vorliegen, bestätigen das, dass sich die Menschen nicht der Gefahr aussetzen wollen, aus fadenscheinigen Gründen als Terrorist oder Unterstützer von Terroristen abgestempelt zu werden, dass sie sich ducken müssen auch in der engen Nachbarschaft."
So werde in türkischsprachigen Medien in Deutschland offen dazu aufgerufen, Menschen zu melden, die möglicherweise Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung haben.
"Die soziale Kontrolle ist viel weiter fortgeschritten, als wir das in der Öffentlichkeit wahrnehmen."
Warum reicht Erdoğans Politik bis nach Deutschland?
Die Stimmung vor der Wahl ist angespannt und von großem Misstrauen geprägt, erzählt auch die Integrations-Staatssekretärin von NRW, Serap Güler.
"Die Menschen, egal ob sie hier sind oder in der Türkei – ich war selbst gerade vor drei Wochen in der Türkei-, hatten noch nie so Angst, offen über Politik zu sprechen, wie ich das aktuell wahrnehme."
Seit dem Putschversuch in der Türkei geht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rigoros gegen Kritiker vor. Aber warum reicht seine Politik überhaupt bis nach Deutschland?
Der Leiter des Zentrums für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen, Haci-Halil Uslucan, erklärt zwar, dass sich der größte Teil der etwa drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland beiden Ländern zugehörig fühle, aber:
"Wenn wir fragen, wenn sie sich entscheiden müssten, dann erleben wir seit 2010 eine Abnahme der Identifikation mit Deutschland und eine Zunahme der Identifikation mit der Türkei"
1,4 Millionen wahlberechtigte Türken leben in Deutschland
Auslöser dieser Entwicklung sei möglicherweise eine nach seinen Worten seit 2010 sehr gehässig geführte Debatte über Integration in Deutschland.
"Auf der anderen Seite ist die türkische Regierung nicht untätig gewesen. Sie hat beispielsweise 2010 ein eigenes Ministerium für Auslandstürken und verwandtschaftliche Beziehungen gegründet mit dem klaren Signal: Wir kümmern uns um Euch. Also auf der einen Seite hier nicht erwünscht sein und auf der anderen Seite eine Türkei, die sagt: Wir kümmern uns um Euch."
Gut 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken leben in Deutschland, fast ein Drittel von ihnen in Nordrhein-Westfalen. Beim türkischen Verfassungsreferendum vor gut einem Jahr ging knapp die Hälfte an die Urnen in Deutschland – gut 63 Prozent davon stimmten für eine Verfassungsänderung – mehr als in der Türkei, wo lediglich gut 51 Prozent "Ja" sagten.
Wie werden die Türken in Deutschland dieses Mal abstimmen? Wissenschaftler Uslucan:
"Wir haben kontinuierlich rund 60 Prozent Zustimmung zu konservativen Parteien in der Türkei. Sodass auch diesmal eine große Änderung nicht zu erwarten ist."
Heißt: Es wird wohl ein starkes Votum für Erdogans AKP geben. Interessant hierbei ist allerdings folgender Aspekt:
"Was auf den ersten Blick schizophren anmutet, sozusagen widersprüchlich erscheint: Hier in Deutschland haben wir ein sehr klares Votum für Rot-Grün, aber dieselben Menschen würden in der Türkei eine starke AKP-Anhängerschaft bilden."
Diese Widersprüchlichkeit erklärt Uslucan mit einem unterschiedlichen Wahlverhalten: Während die Türken in Deutschland die Parteien wählten, die eher migrations- und integrationsfreundliche Politik machten, sei die politische Einstellung in der Türkei ideologisch geprägt.
Gewünscht: "Battle um die Türken"
Für den Dokumentarfilmer Okkan kommt noch ein Aspekt hinzu: Deutschland habe sich aus einigen Bereichen der Integrations- und Sozialpolitik zurückgezogen – und dadurch an Einfluss verloren habe.
"Wir dürfen uns nicht wundern, dass sich so viele Jugendliche von der türkischsprachigen Community den Konservativen annähern, wenn wir die ganze Jugendarbeit, die Sozialarbeit in den Vierteln, den religiösen Gruppen überlassen."
In einigen Gegenden schickten nicht mehr Wohlfahrts- und Sozialverbände Streetworker in die Viertel, sondern Moscheen, oder Verbände wie die Ditib.
Wer wirklich erreichen wolle, dass für die Deutsch-Türken Deutschland wieder wichtiger werde, der müsse sich bemühen, meint Güler:
"Ich muss ganz ehrlich sagen, gerade als Vertreterin der deutschen Politik, würde ich mir von uns als Gesamtgesellschaft - ich sage das mal ganz salopp - ein "Battle um die Türken hier" wünschen."