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Türkei
Wenig Schutz für Arbeiter

Das Grubenunglück in der Türkei mit mehr als 280 Toten wirft ein Schlaglicht auf die mangelnde Arbeitssicherheit in dem Land. Bei Unfällen starben allein im letzten Jahr mehr als 1.200 Arbeiter. Die Menschen können sich gegen die schlechten Bedingungen kaum wehren.

Von Susanne Güsten |
    Trauernde Bergarbeiter nach dem Unglück im Kohlekraftwerk Soma in der Provinz Manisa
    Trauernde Bergarbeiter nach dem Unglück im Kohlekraftwerk Soma in der Provinz Manisa. (picture alliance / dpa / Tolga Bozoglu)
    Eine Kellerwerkstatt im Istanbuler Außenbezirk Büyükcekmece. Bei Neonlicht schuften hier 20 Jugendliche. Ihr Handwerk ist es, fabrikneue Jeans alt aussehen zu lassen. Mit Sandstrahlern bearbeiten die jungen Männer jede Hose, um ihr den modisch abgewetzten Vintage-Look zu verpassen .
    Osman Demir ist erst Mitte 20, dennoch fällt es ihm inzwischen schwer zu atmen:
    "Ich habe mit 13 Jahren in Istanbul angefangen in der Sandbestrahlung von Jeans. Ich habe sechs oder sieben Jahre lang da gearbeitet, habe selbst den Sandstrahler bedient. Vor zwei, drei Jahren sind die ersten Arbeitskollegen von mir gestorben."
    Inzwischen sind mehr als 50 Textilarbeiter an der Staublunge gestorben, Hunderte weitere sind todkrank, Tausende unheilbar erkrankt - genau weiß es keiner, denn die todgeweihten Männer wurden illegal beschäftigt, ungeschützt und unversichert. Die Sandstrahler sind nun verboten, aber in anderen Industriezweigen geht das Sterben weiter. Auf den türkischen Werften kamen in den letzten Jahren mehr als 150 Arbeiter ums Leben - zwei davon, als sie bei Materialtests als Ballast geladen wurden - anstelle von Sandsäcken. Auf dem Bau sterben sogar noch mehr Arbeiter. Mitten in Istanbul verbrannten unlängst elf Bauarbeiter in dem Zelt, in dem sie auf der Baustelle untergebracht waren. Im westtürkischen Bursa wurde vor zwei Wochen ein 15-Jähriger als Metallarbeiter von zwei Tonnen Eisenträgern erschlagen. Die Liste ließe sich stundenlang weiter verlesen, denn statistisch sterben in der Türkei jeden Tag drei bis vier Menschen bei Arbeitsunfällen.
    Wenig Rechte für illegal angestellte Arbeiter
    Eine Hinterhofwerkstatt im Istanbuler Stadtteil Güngören. In einem schlecht beleuchteten Raum sitzen ein Dutzend Frauen über ihre Nähmaschinen gebeugt. Zeynep Uyar war 16 Jahre alt, als sie hier anfing:
    "Zwölf Stunden am Tag ist die Arbeitszeit, sechs Tage die Woche, von Montag bis Samstag, da bleibt nicht viel übrig vom Leben. Und wenn die Regelarbeitszeit herum ist, am Samstagabend, dann fangen die Überstunden an. Das kann man sich nicht aussuchen, sonst wird man hinausgeworfen."
    Gesetzliche Arbeitszeiten sind das nicht - die liegen in der Türkei bei 45 Stunden pro Woche, gelten aber nur für gesetzlich angestellte Arbeiter. Das ist in der Türkei nur jeder zweite. Fast die Hälfte aller türkischen Beschäftigten ist illegal angestellt, nicht versichert und rechtlos. Wehren können sich die türkischen Arbeiter nicht. Ihre Gewerkschaften wurden beim letzten Putsch vor 35 Jahren von den Militärs kastriert, weil sie sich der aufmüpfigen Arbeiterbewegung entledigen wollten. Darunter leiden die Arbeiter der Türkei bis heute, sagt Kazim Dogan vom Gewerkschaftsverband DISK:
    "Bis zum Militärputsch von 1980 waren 85 Prozent aller Arbeiter im Textilsektor organisiert. Heute sind es zwei Prozent. Die Verfassung und die Gesetzgebung, die nach 1980 von den Putschisten erlassen wurden und bis heute fortgelten, haben die gewerkschaftliche Organisation absichtlich erschwert. Die Militärs wollten eine gewerkschaftsfreie Gesellschaft schaffen, und das ist ihnen gelungen."