Wenige Tage nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand. Bedenken der Bevölkerung versuchte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu zerstreuen:
"Der Ausnahmezustand richtet sich keinefalls gegen die Demokratie, den Rechtsstaat und die Grundrechte. Im Gegenteil: Er soll diese Werte schützen und stärken."
Die Realität vermittelte einen anderen Eindruck: Es begann eine Entlassungs- und Verhaftungswelle, wie sie die Türkei seit dem Militärputsch 1980 nicht mehr erlebt hat. Innerhalb von gut vier Monaten verloren 110.000 Staatsbedienstete ihren Job: beim Militär, bei der Polizei, in den Ministerien und an den Universitäten. Ihnen allen wirft die Regierung eine Nähe zum islamischen Prediger Fetullah Gülen vor. Der ehemalige Erdogan-Verbündete gilt Ankara als Drahtzieher des Putschversuchs. Erdogan will das Gülen-Netzwerk bis in die kleinste Verästelung ausräuchern:
"Diese ganze Angelegenheit ist so tiefgründig und so komplex, dass sich schon jetzt abzeichnet, dass drei Monate nicht ausreichen werden. Deshalb hat der Nationale Sicherheitsrates entschieden, der Regierung eine Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere drei Monate vorzuschlagen."
Doch nicht nur gegen vermeintliche Anhänger des Predigers Gülen rückt Erdogan zu Felde. Sein Kampf gegen Terrorismus bezieht auch vermeintliche Unterstützer der kurdischen PKK mit ein. Für solche hält er auch die Parteichefs der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Insgesamt landeten 36.000 Menschen im Gefängnis. Darunter auch Schriftsteller und Journalisten. Als die Chefredakteure der unabhängigen Zeitung "Cumhurriyet" verhaftet wurden, war aus Sicht von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz eine rote Linie überschritten. Doch der türkische Regierungschef Binali Yildirim durchkreuzte Schulz' Kritik:
"Da hat einer im EU-Parlament gesagt, mit den Festnahmen hätten wir eine rote Linie überschritten. Ich sage ihm: Auf Deine roten Linien achten wir nicht. Bei uns bestimmt das Volk die Linien. Deine Linien gelten hier nicht. Wir machen einen Strich durch Deine Linien."
Während Erdogan immer mehr politische Gegner kalt stellt, arbeitet er weiter an einem Präsidialsystem für die Türkei. Es würde dem 62-Jährigen eine nahezu uneingeschränkte Macht verleihen. Weil der Regierungspartei AKP die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit fehlt, will Erdogan das Volk abstimmen lassen. Über das Präsidialsystem und auch über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch das eigentlich eine rote Linie für die EU. Doch gegen Kritik aus dem Ausland scheint Erdogan immun zu sein.
"Sollen sie mich doch einen Diktator nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus."
Sollte das EU-Parlament dafür stimmen, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren, dürfte das Erdogan kalt lassen. Er wird sich bestätigt fühlen: Die EU habe die Türkei doch nie gewollt. Nicht unwahrscheinlich, dass Erdogan – statt einzulenken - weiter provoziert: Schon vor wenigen Tagen stellte er den Vertrag von Lausanne in Frage und damit auch die seit 1923 geltenden Grenzen der Türkei. Wiederholt hatte Erdogan von einigen Inseln in der Ägäis gesprochen, die doch rein geografisch eindeutig zur Türkei gehörten und nicht zu Griechenland.