Das Designerlädchen im Istanbuler Stadtteil Moda ist gerade einmal so groß, dass sich zwei Kunden gleichzeitig darin aufhalten können. Besitzerin Aytül Üce, zum Glück klein und zierlich, drückt sie sich in eine Ecke, um nicht im Weg zu stehen.
"Wir sind hier im 'Yeti', einem Laden, in dem wir die Arbeiten von insgesamt dreißig lokalen Designern verkaufen."
Die 34-Jährige pflügt mit der Hand durch einen Haufen kunterbunter Yeti-Produkte, die in der Mitte des Ladens in einer großen Schüssel auf Kunden warten. In den Regalen rundherum liegen kleine Keramikarbeiten, handgemachter Schmuck, bedruckte T-Shirts und Stoffbeutel. Alles "Made in Turkey", entworfen von Aytül und ihren Freunden.
Designladen statt Anwaltsjob
"Ich habe eigentlich gar nicht Design studiert, sondern Jura. Sechs Jahre habe ich als Anwältin gearbeitet. Aber weil das Rechtssystem in der Türkei miserabel ist und wohl auch ein bisschen wegen meines Charakters und weil ich ganz einfach unglücklich war, habe ich vor drei Jahren alles hingeschmissen."
Fast schon herausfordernd forscht die eben noch schüchterne Aytül im Gesicht ihres Gegenübers nach einer Reaktion, während sie erzählt. Die Entscheidung damals, gesteht sie, war die schwierigste, aber auch die beste ihres Lebens.
"Meine Verwandten haben mich für verrückt gehalten. Und auch Bekannte haben gesagt: Warst du für nichts und wieder nichts an der Uni? Hat deine Familie umsonst dein Studium finanziert? Aber ich würde das nie so sehen. Ich habe viel gelernt in dieser Zeit. Und trotzdem würde ich niemals wieder in meinen alten Beruf zurückkehren. Alles, was ich jetzt noch machen will, ist das hier."
Gegen die Abhängigkeit vom Mann
Aytül dreht sich um, steigt die steile Holzstiege hinauf, die in ihr winziges Atelier führt. Auf einem Schreibtisch stapeln sich Bunt- und Filzstifte jeder Art, Zeichnungen und Entwürfe, Notizen und Telefonnummern.
Auf einer dicken Folie hat sie handtellergroße Häuser im Hundertwasserstil gemalt, die sie jetzt sorgfältig ausschneidet und wie Weihnachtsplätzchen in einen vorgeheizten Ofen legt. Drei Minuten, dann sind die Zeichnungen auf zentimeterdicke Plastikbroschen zusammengeschmolzen. Unter der Schreibtischlampe kontrolliert Aytül jede einzelne noch einmal genau auf überstehende Ecken.
"Egal, was ich tue, für mich ist es wichtig mein eigenes Geld zu verdienen. Das mag abgedroschen klingen, aber gerade eine Frau muss auf eigenen Füßen stehen. Wenn nicht, wird sie immer abhängig sein, selbst wenn der Ehemann oder die Eltern reich sind."
Aytül wirft einen Blick durchs Fenster, hinaus auf die Straße voller Cafés und Läden mitten im lebhaften Moda. Eine junge Frau mit blauer Lockenmähne und Zigarette hastet vorbei, winkt, bevor sie in der Espressobar gegenüber verschwindet.
"Ich würde nirgendwo anders leben wollen als hier in Moda. Alle meine Freunde wohnen in der Nachbarschaft. Am Wochenende gehen wir immer zusammen aus oder treffen uns bei irgendwem zuhause. Viele wohnen auch in WGs. Das ist in der Türkei ansonsten sehr ungewöhnlich."
Das liberale Moda ist für Aytül zu einer Art Insel im zunehmend konservativen Istanbul geworden. Erdogan und seine Kopftuch-AKP haben bei uns keine Chance, sagt sie lachend. Dann schaltet sie den Ofen in der Ecke aus, packt ein paar Sachen in eine lila Umhängetasche und steigt vorsichtig die Stiege hinunter.
"Eigentlich fühlt man sich hier ein bisschen wie in Berlin oder so. Man trifft die unterschiedlichsten Leute. In der Umgebung gibt es Vintage-Läden und Falafel-Restaurants, Cafés und Designlädchen wie meines. Diese Straße da vorne nennen wir die Barstraße. Da kann man es gut sehen: Zwischen Männern und Frauen gibt es bei uns keinen Unterschied. Hier sitzen alle zusammen. Reden, trinken, haben Spaß…"
"Hier kann jeder so leben, wie er will"
Vor einer schwarz angestrichenen Kneipe steuert Aytül auf einen jungen Mann mit Pferdeschwanz zu. Ein flüchtiger Kuss, dann gehen sie hinein.
Aytüls Mann Halil ist Ingenieur, kommt gerade aus dem Büro auf der anderen Seite des Bosporus. Wenn er abends mit der Fähre zurück nach Moda kommt, sagt er, atmet er jedes Mal wie befreit auf.
"Hier kann jeder so leben, wie er will. In Moda urteilt keiner über den anderen. Es gibt nicht diesen Nachbarschaftsdruck, den ich aus anderen Vierteln kenne, in denen ich früher gelebt habe. Hier braucht man sich nicht ständig zu fragen, was die anderen wohl von einem denken."
Halil winkt den Kellner heran, bestellt eine Runde türkisches Efes-Bier. Seit 12 Jahren sind Aytül und er ein Paar. Bis vor wenigen Monaten ohne verheiratet zu sein.
"Es passiert uns oft, dass ausländische Freunde zu uns sagen: Ihr wirkt überhaupt nicht türkisch", sagt Aytül. "Aber das ist Quatsch! Natürlich sind wir wie Türken – nur eben nicht wie die, die ihr da drüben kennt. In unseren Kreisen ist es normal, dass es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Ich meine, da ist es doch nicht normal, dass es immer noch Leute gibt, die denken, Frauen sollten nicht arbeiten gehen, sondern Kinder großziehen. Wir zum Beispiel wollen vielleicht gar keine Kinder. Schließlich weiß keiner, wo dieses Land hinsteuert."
Atatürk und Nirvana auf den Unterarmen
In der Bar ist es jetzt merklich voller geworden. Das Tablett mit dem Bier hoch über dem Kopf balancierend drängelt sich der Kellner zu ihrem Tisch durch. Auf dem einen Unterarm prangt die Unterschrift des säkularen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk. Auf dem anderen ein Songtitel der Band Nirvana. In beiden Ohren trägt er silberne Ringe. Aytül grinst. Typisch türkisch, oder?