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Türkei zwischen Ost und West (4/5)
Letzter Vorhang für Istanbuls Atatürk-Kulturzentrum

Das Atatürk-Kulturzentrum in Istanbul galt lange als Symbol für eine Türkei, die ihre Zukunft in Europa sieht. Hier wurden Opern und europäische Theaterstücke inszeniert, fanden Ballettaufführungen und Konzerte statt. Seit einigen Jahren aber verfällt das Gebäude. Und das ist kein Zufall.

Von Luise Sammann |
    Das verfallende Atatürk-Kulturzentrum am Istanbuler Taksimplatz
    Das verfallende Atatürk-Kulturzentrum am Istanbuler Taksimplatz (AFP / Ozan Kose)
    Die feinen Hände von Yusuf Güler blättern durch ein Album mit Zeitungsausschnitten und Fotos, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Nur ein leichtes Zittern verrät, dass der pensionierte Geiger bald seinen 82. Geburtstag feiert. Die vollen Haare sind auch heute noch so schwarz wie auf den alten Aufnahmen, die Brauen frisch gezupft, die hellbraunen Augen hinter der Brille rastlos und voller Energie.
    "Hier dirigiere ich gerade das Weltorchester in Japan, weil der Dirigent kurzfristig ausgefallen ist. 1987 war das. Und hier – ein paar alte Fotos, Konzertankündigungen und Zeitungskritiken. Ich war Solist, erster Geiger, manchmal Dirigent. Ach, da kommen so viele Erinnerungen hoch."
    Yusuf Güler steht auf und durchquert mit federnden Schritten die weitläufige Wohnung im asiatischen Teil Istanbuls. Weicher, heller Teppichboden in allen Zimmern, weiße Möbel, moderne Kunst an den Wänden. Eine Wohnung, wie man sie überall auf der Welt finden kann. Allein die riesigen Öltanker auf ihrem Weg von Asien nach Europa verraten die Nähe zum Bosporus. Weit draußen vor dem Fenster schieben sie sich wie in Zeitlupe vorbei.
    Treffpunkt für westlich orientierte Elite
    In der Küche legt Yusuf Güler Pistaziengebäck auf einen Teller, füllt starken türkischen Mokka in Porzellantässchen. Alles einhändig, denn seit einem Autounfall im vergangenen Jahr kann er die rechte Schulter nicht mehr heben. Das Lächeln verschwindet aus dem freundlichen Gesicht, wenn er an die Geige denkt, die seitdem unangerührt im Schrank steht. Fünfzig Jahre lang hat Güler auf Bühnen in aller Welt gespielt. Besonders eine davon ist ihm bis heute im Gedächtnis geblieben: das Atatürk-Kültür-Merkezi am Istanbuler Taksim-Platz, jahrzehntelang Treffpunkt der modernen, westlich orientierten Elite in der Türkei.
    "Die Karten waren immer innerhalb von Stunden ausverkauft, wenn sich Künstler mit internationalem Renommee im Atatürk-Kulturzentrum ankündigten. Und dann, wenn die unzähligen Lichter hinter der Glasfassade eingeschaltet wurden und den ganzen Taksim-Platz anstrahlten ... Wunderbare Abende waren das."
    In Gedanken versunken nippt der 81-Jährige an seinem Kaffee. Heute geht er nur noch selten an den Taksim-Platz. Und das liegt nicht etwa an seinem Alter, sondern vor allem daran, dass der Ort für Menschen wie Yusuf Güler bedeutungslos geworden ist. Seit das Atatürk-Kültür-Merkezi vor fast zehn Jahren von der AKP-Regierung geschlossen wurde.
    Für Renovierung geschlossen, aber nie renoviert
    Seitdem gammelt die durchlöcherte Fassade des einst so prestigeträchtigen Ortes nutzlos vor sich hin. Die Renovierungsarbeiten, wegen derer die Bühne damals angeblich geschlossen wurde, setzten nie ein. Zufall? Niemals. In einem Café direkt am Taksim-Platz sitzt die landesweit bekannte Architektin Müccela Yapici und schüttelt entschieden mit dem Kopf. Das schulterlange Haar der 66-Jährigen ist blondgefärbt, zwischen den Fingern glimmt wie immer eine Zigarette.
    "Dieses Gebäude hat eine große Symbolkraft. Es steht für die moderne Ausrichtung, die die türkische Republik bei ihrer Gründung haben sollte. Seine ganze Architektur spiegelt die westliche Kultur wider. Aber genau das, und die Musik und Opern, die dort einst präsentiert wurden, entsprechen nicht der Art von Kultur, die die aktuelle Regierung unserer Gesellschaft verordnen möchte."
    2013 besetzten Protestierende die Spielstätte am Taksim-Platz
    2013 besetzten Protestierende die Spielstätte (imago / Florian Schuh)
    Mücella Yapici lässt den Blick über den Taksim-Platz schweifen. Seit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 hat sich hier viel verändert. Das Shoppingcenter im Stil einer osmanischen Kaserne, das Erdogan an Stelle des Gezi-Parks geplant hatte, konnte bisher zwar verhindert werden. Dafür hat der Bau einer großen Moschee am Südende des Platzes bereits begonnen.
    Politik mit Architektur
    "Alle Regierungen, vor allem die autoritären, versuchen, ihre Spuren in Architektur und Kultur zu hinterlassen. Und sie versuchen dafür, die symbolischen Bauwerke ihrer Vorgängerregierungen zu zerstören. Nach dem Motto: Jetzt bin ich hier, alles, was nicht passt, muss weg und durch meinen Stil ersetzt werden."
    Mücella Yapici zieht ihr Smartphone aus der Tasche und zeigt eine Videoanimation von dem neuen Kulturzentrum, das 2019 anstelle des alten entstehen soll. "Natürlich mal wieder das größte der Welt", spöttisch verzieht sie den Mund. Dass das Atatürk-Kültür-Merkezi nach den jüngst veröffentlichten Plänen immerhin seinen Namen behalten – und nicht, wie von vielen befürchtet, als Erdogan-Kültür-Merkezi neu eröffnet werden soll – ist für die Architektin kein Trost.
    Restaurierung statt Abriss hatten sie und Millionen andere säkular geprägte Türken seit Jahren gefordert. Doch die Regierung entschied anders. Vor allem Präsident Erdogan, der sich bei der Vorstellung seiner Pläne erneut explizit gegen die westlich-europäische Kultur stellte, wollte von einer Restaurierung nie etwas hören.
    Trauer um symbolträchtigen Ort
    Auch Geiger Yusuf Güler verfolgt die Pläne für das neue Kulturzentrum am Taksim-Platz in seiner Wohnung am anderen Ufer des Bosporus genau. Schon bald werden seine Erinnerungen und Zeitungsausschnitte endgültig Geschichte sein.
    "Ich habe auf allen großen Bühnen in Europa und Japan gespielt. Das Atatürk-Kulturzentrum war im Vergleich zu den meisten von ihnen akustisch gesehen alles anderes als Spitzenklasse. Aber für die Türkei hatte es eben trotzdem eine ganz besondere, eine einmalige Bedeutung."