Chefkoch Mehmet Gürs, tätowierte Unterarme, Struwwelfrisur und Schlabberjeans, bindet die dunkelblaue Schürze um den Bauch, überfliegt ein letztes Mal die Speisekarte des Abends.
Ein Dutzend Angestellte wuseln bereits um den Chef herum, Hilfsköche mit weißen Kochmützen rühren in riesigen Edelstahltöpfen, garnieren Vorspeisenteller mit Granatapfelsirup und Ziegenkäse, braten Fleisch an.
Alles läuft rund im "Mikla", Mehmet Gürs' Lebenswerk im 17. Stock des Marmara-Pera-Hotels hoch über den Dächern von Istanbul.
"Ein typisches Mikla-Gericht besteht aus sehr einfachen Zutaten. Tarhana zum Beispiel, eine Trockensuppe aus fermentiertem Weizen, wie türkische Hausfrauen sie seit Jahrhunderten verwenden. Oder Hamsi ekmek, eine Art Fischbrötchen, wie sie sie in Istanbul überall kriegen. Mit Sardellen aus dem Schwarzen Meer, dem so genannten Arme-Leute-Fisch."
Westliches Fine-Dining und anatolische Bauernküche
Wer Mehmet Gürs zuhört, die Lebensmittel sieht, die sich in seiner Küche türmen, käme nicht auf den Gedanken, dass das "Mikla" gerade zum zweiten Mal in Folge unter die besten fünfzig Restaurants der ganzen Welt gewählt wurde. Ein Spitzenklasselokal mit Fischbrötchen und Trockensuppe auf der Speisekarte?
"Warum nicht? Warum sollte Kaviar mehr wert sein als einfache Schwarzmeersardellen? Gerade habe ich gelesen, dass die Trüffel im italienischen Alba dieses Jahr 3000 Euro pro Kilo kosten. Aber sind sie deswegen wirklich besser als eine erstklassige, unter besten Bedingungen aufgezogene und gepflückte türkische Tomate? Die Linsen, die wir hier verwenden, sind die besten, die Sie finden können. Von einer alten Bäuerin im Norden der Türkei angebaut. Und unser Tahin kommt von einer Familie, die seit zehn Generationen Sesammus herstellt. Solche Dinge sind für mich wertvoller als Kaviar."
Gürs nimmt drei im hauchdünnen Teigmantel gebratene Sardellen aus einer Pfanne, steckt sie behutsam in drei eingeritzte schwarze Steine. Wie kleine Fähnchen ragen sie in die Luft ... Seit zwölf Jahren entstehen im "Mikla" allabendlich Kreationen irgendwo zwischen westlich geprägtem Fine-Dining und anatolischer Bauernküche.
Grenzen überschreiten und Traditionen bewahren
"Am Anfang war unsere Idee, ein Istanbul-Restaurant zu eröffnen. Also einen Ort, der nach dieser Stadt schmeckt und riecht. Aber schnell kam die Frage auf, was heißt das eigentlich genau? Ich hab mich also auf eine Reise durch ganz Anatolien und Teile Europas begeben, einen Ethnologen eingestellt, der seitdem mit mir arbeitet. Wir mussten die Regionen und Kulturen, die in dieser Stadt zusammenfließen, wirklich verstehen. Mussten die Zutaten sehen, die die Menschen im Alltag benutzen."
Monatelang reiste Mehmet Gürs umher, saß bei kurdischen Hausfrauen und griechisch-türkischen Bauern in der Küche, ignorierte Grenzen und Kontinente, fragte und lernte. Das Ergebnis landete zuerst in einem so genannten "Mikla"-Manifest mit dem Titel "New Anatolia" und dann auf den Tellern seiner Gäste.
"Wir wagen etwas völlig Neues. Und natürlich gefällt das nicht jedem. Wenn Sie den Hausfrauen in den Dörfern sagen, sie nehmen ihr uraltes Rezept und kombinieren es ganz neu, dann rütteln sie ja an deren ganzer Lebensgrundlage. Aber wir respektieren die Traditionen und das Wissen dieser Menschen! Nur eben nicht die Engstirnigkeit und den Konservatismus, die dahinter stecken. Nur so kann man eine Kultur weiterbringen – sie leben lassen, anstatt sie irgendwann ins Museum zu verbannen …"
"In Antakya würden sie es uns ins Gesicht klatschen"
Ein Beispiel muss her. Mehmet Gürs durchquert die von Duft und Dampf durchzogene Küche und bleibt neben zwei wäschekorbgroßen Becken stehen. In einer weißgrauen, blubbernden Brühe schwimmen orangene Kürbisstücke.
"Hier entsteht eine typisch türkische Kürbissüßigkeit. Die Kalklösung sorgt für eine ganz besondere Kruste. Wir sind zu einem der berühmtesten Meister im südtürkischen Antakya gegangen und haben gesagt: Dein Kürbis ist köstlich. Aber mir ist er einfach zu süß. Verrat uns, wie wir es schaffen, dass die leckere Kruste genauso knusprig wird, das Ganze aber weniger süß. Unmöglich, sagte er. Und warum? Weil es eben schon immer so gemacht wurde … Wir sind also zurück nach Istanbul gefahren, haben allein monatelang mit Zucker und Kalk herumexperimentiert. Das Ergebnis ist für mich weiter 100 Prozent typisch türkisch. Aber die Leute in Antakya würden es uns wahrscheinlich ins Gesicht klatschen."
Als knusprige, hauchzarte Röllchen, garniert mit grünen Pistazien und Safran-Eis, kommt der Kürbis heute als Nachtisch auf den Teller. Mehmet Gürs balanciert das Kunstwerk zur Tür und drückt auf eine Klingel. In Sekundenschnelle erscheint ein weiß livrierter Kellner, trägt die Bestellung in den Speisesaal.
Wenn eine Biene aus Georgien in der Türkei Honig macht ...
Schneeweiße Tischdecken und blitzende Weingläser auf den Tischen, eine moderne Cocktailbar mit Edelstahltresen in der Mitte des Raums. Vor allem aber: Ein schier endloser Panorama-Blick über das abendliche Istanbul. Hier die historischen Altstadtgässchen, der Galata-Turm, die Süleymaniye-Moschee mit ihren Kuppeln und Minaretten. Dort die moderne Megametropole mit ihren glasverkleideten Wolkenkratzern, den Bosporusbrücken, Hotels und Shoppingmalls.
Mehmet Gürs lächelt. Ein Ausblick ganz nach seinem Geschmack.
"Unsere Küche beruht auf anatolischen Traditionen. Aber unsere Tischdecken sind weiß und die Designerstühle kommen aus Schweden. Na, sind wir jetzt ein eher westliches oder östliches Restaurant? Wenn wir uns auf diese Diskussion einlassen, egal ob beim Essen oder bei anderen Themen, können wir nur verlieren. Wenn eine Biene aus Georgien in die Türkei fliegt und dann hier Honig produziert, ist das dann türkischer oder georgischer Honig?"
Bitte keine Festlegungen
Mehmet Gürs' Mutter ist Finnin. Sein Vater Türke. Die Frage, wohin er gehört, hat der 48-Jährige von Geburt an mit sich herumgetragen. Lange wie einen schweren Stein, gibt er zu. Erst in der Küche fand er eine Antwort. Seine Antwort:
"Ich glaube nicht, dass ich und die Türken uns unbedingt der einen oder anderen Seite anschließen müssen. Wir waren immer in der Mitte, gehörten weder ganz hier hin noch dort hin. Weder Europa noch Asien, weder West noch Ost. Uns diese Entscheidung aufzuzwingen, ist zerstörerisch. Nicht nur in der Küche. Wir sind, was wir sind. Fertig."