13.000 Menschen harren nach Schätzungen der Vereinten Nationen gerade auf der türkischen Seite zur Grenze nach Griechenland aus. Tausende haben versucht, die Grenze zu passieren. Das haben Polizisten und Soldaten auf griechischer Seite verhindert – auch mit Tränengas und Wasserwerfern. Dort wird heute auch die gesamte EU-Spitze erwartet: Kommissionspräsidentin, der Parlamentspräsident und der EU-Außenbeauftragte. Sie wollen sich dort mit Griechenlands Regierungschef Mitsotakis beraten.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrich Lechte, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und auch auch stellvertretender Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, fordert im Dlf eine EU-Lösung und appellierte an die Regierungschefs, ihren Verpflichtungen gerecht zu werden.
Jasper Barenberg: Herr Lechte, wie sehr ist die EU, wie sehr ist auch Deutschland von dieser gezielten Provokation des türkischen Präsidenten kalt erwischt worden?
Ulrich Lechte: Kalt erwischt werden darf man im politischen Geschäft eigentlich nie. Wir hatten seit 2015 die Situation mit Syrien. Wir kennen die Flüchtlingsströme nach Europa, die auch zum Erstarken der AfD in Deutschland geführt haben, die eine Million, die damals nach Deutschland gekommen sind. Alle sind darüber informiert. Und man hat die Zeit, die man sich durch den EU-Türkei-Deal gekauft hat, schlicht und ergreifend nicht genutzt.
Barenberg: Hat der UNHCR in Deutschland recht, Martin Rentsch, wenn er sagt, nicht die Flüchtlinge an der Grenze zu Griechenland sind gerade das Problem, sondern die fehlende Antwort der Europäischen Union auf eine solche Situation?
Lechte: Die Europäische Union – es ist ja immer so einfach, als Politiker alle Schuld nach Brüssel zu schieben – liegt zur Abwechslung mal nicht beim Parlament oder bei der Kommission, sondern sie liegt tatsächlich beim Rat, sprich bei unseren Regierungschefs. Die Situationen sind bekannt und wir haben über den Brexit in letzter Zeit sehr, sehr viel diskutiert, wir diskutieren unwahrscheinlich viel über den EU-Haushalt. Über die drängendste Frage der Flüchtlingsströme nach Europa von Libyen aus oder von Syrien und jetzt auf Druck von der Türkei auch wieder an der griechischen Grenze, darüber wurde nicht diskutiert. Und das muss sich die Regierung, auch die Bundesregierung muss sich das vorhalten lassen.
Barenberg: Können wir festhalten: Wir haben uns unter anderem mit dem Abkommen mit der Türkei erpressbar gemacht von Präsident Erdogan und wir bekommen das jetzt zu spüren?
Lechte: Das ist korrekt. Nehmen Sie einfach mal die Zahlen. Das ist relativ einfach. Es sind ja sechs Milliarden vereinbart in dem EU-Türkei-Deal. Wir erinnern uns alle an die Bilder, wie Frau Merkel damals in dem neu gebauten Palast neben Herrn Erdogan saß. Und am Ende vom Tag waren alle, na ja, nicht sonderlich glücklich mit der Situation, weil jeder wusste, worauf das hinausläuft. Aber es waren sechs Milliarden. Erdogan spricht heute von 40 Milliarden Kosten, aber es sind ja erst 3,2 Milliarden von den sechs Milliarden an die Türkei tatsächlich geflossen. Und wir kennen das von unseren Sandkasten-Djangos, wie ich das immer nenne. Er macht jetzt einfach tabula rasa und setzt uns richtig unter Druck. Man hätte im Vorfeld der Türkei mehr helfen müssen, was übrigens auch für alle EU-Südstaaten gilt. Wir erinnern uns an Italien, Lampedusa, wir kennen die Bilder von Griechenland, von Samos, Lesbos und den unterschiedlichen Lagern. Dort müssten wir viel mehr ansetzen. Auch in Griechenland haben wir Gelder hin überwiesen, die gar nicht zum Einsatz kommen, weil zu viel Geld zur Verfügung steht, was von Griechenland zum Beispiel gar nicht umgesetzt wird.
"Notfallprogramm der EU ist ein Tropfen auf den heißen Stein"
Barenberg: Herr Lechte, jetzt zeichnet sich schon ab, die Bereitschaft zumindest, und es wird dann mutmaßlich ja auch so kommen: Es wird mehr Unterstützung, mehr Geld für die Türkei, für Präsident Erdogan geben. Das heißt, wir sind in der Hand eines Erpressers und geben jetzt auch nach?
Lechte: Wenn man es aus Erdogans Sicht sieht, haben wir an der syrischen Grenze derzeit aufgrund der Unterstützung Russlands und bei der syrischen Offensive von Assad derzeit weitere 950.000 Menschen stehen in der Türkei. Die Türken haben ein Volk von 100 Millionen. Es sind 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge derzeit dort. Und wir selber sind mit sechs Milliarden im Freikauf gewesen. Dass man da viel mehr tun muss, ist doch völlig klar. Auch das Notfallprogramm der Europäischen Union, 1.500 Frontex-Soldaten respektive Einsatzkräfte an die Grenze zu schicken, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie wissen selber, haben Sie ja gesagt, 13.000 stehen jetzt gerade an der Grenze. Aber insgesamt sind in der Türkei 3,5 Millionen und eine Million stehen an der Grenze zur Türkei. Das heißt, wir reden von Flüchtlingszahlen im Bereich von 4,5 Millionen.
Barenberg: Lassen Sie uns gleich noch mal die Situation in Griechenland erörtern, zum Abschluss zum Themenkomplex Türkei. Sie finden es das richtige Signal an Erdogan, jetzt zu sagen, Du hast diese Provokation gemacht, aber trotzdem kriegst Du von uns mehr Geld und mehr Unterstützung für Flüchtlinge in der Zukunft? Das ist das richtige Signal?
Lechte: Wir werden ihn unterstützen müssen. Wir wissen, dass diese wirtschaftliche Situation in der Türkei auch nicht sonderlich blendend ist. Sich von Erdogan erpressbar zu machen, war das Schlimmste, was uns je passieren konnte. Das wurde auch immer an dem EU-Türkei-Deal kritisiert. Das ist ja nichts Neues, haben wir auch als Opposition von der FDP immer wieder kritisiert. Aber wir müssen jetzt mit den realen Fakten gerade leben. Und die bedeuten, der EU-Rat muss zusammentreffen, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, und müssen eine gemeinsame Linie finden. Die letzten Jahre sind völlig verstrichen worden und man hat nicht die Zeit genutzt, die man hatte, um sich auf eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik zu einigen.
Barenberg: Sie sind optimistisch, dass das jetzt auf einmal klappen kann?
Lechte: Wir haben im Rahmen vom Brexit gesehen, was passieren kann, wenn die europäischen Regierungschefs unter Druck geraten. Und ich gehe davon aus, dass wenn sie sich jetzt zusammen treffen mit dem Druck an der Grenze, dass dann entsprechende Maßnahmen hoffentlich getroffen werden können. Es geht dabei zum Beispiel um die Verteilung von Flüchtlingen. Wir müssen die humanitäre Hilfe, die wir bereits geleistet haben, auch entsprechend verteilen. Wir müssen dafür sorgen, dass es in den Lagern besser zugeht. Und wir müssen vor allem Griechenland, die jetzt ganz besonders davon betroffen sind, helfen.
"Eine politische Lösung innerhalb Europas finden"
Barenberg: Griechenland helfen, um auf diesen Punkt noch mal zu kommen, heißt auch, Bundesgrenzschutzbeamte im Rahmen eines Frontex-Mandats nach Griechenland schicken?
Lechte: Ja. Die 1.500 Mann starke Frontex-Einsatzgruppe ist bereits in Alarmbereitschaft versetzt und soll jetzt verlegt werden. Und das bedeutet natürlich auch, dass wir gegebenenfalls Beamte aus der Bundespolizei, sofern das möglich ist, dort unten zum Einsatz zu bringen. Dennoch wird es keine Dauerlösung sein können, mit Tränengas und Wasserwerfern zu agieren, sondern man muss eine politische Lösung innerhalb Europas finden und in Gottes Namen auch in Verhandlungen mit Herrn Erdogan.
Barenberg: Herr Lechte, wenn jetzt Beamte der Bundespolizei an der griechischen Grenze stehen, dann sollen die auch mit dazu beitragen, dass Griechenland gerade faktisch das Asylrecht für einen Monat ausgehebelt hat?
Lechte: Das ist dieser Artikel 78, den Sie vorhin genannt haben. Das Asylrecht ist eines der höchsten Güter unseres Grundgesetzes. Wir Deutschen haben da eine ganz besondere Verantwortung, auch durch unsere Geschichte. Das wird in anderen Staaten nicht ganz so stark gesehen. Wenn es der griechische Rechtsstaat erlaubt, dass man das aussetzen kann, dann wird man dem folgen müssen. So sind nun mal die Machenschaften respektive die Arten unter Freunden. Wenn die Griechen das können, dann können wir das höchstens kritisieren, aber wir brauchen dennoch eine gemeinsame Linie des europäischen Rates. Es kann diesmal nicht ein Europa geben, was sich aufspaltet und unterschiedliche Antworten bilateral findet. Wir müssen das multilateral innerhalb der Europäischen Union klären.
"Der moralischen Verpflichtung gegenüber Flüchtenden stellen"
Barenberg: Herr Lechte, seit Monaten, wenn nicht seit Jahren berichten wir von den zunehmend unhaltbaren Zuständen etwa in den Aufnahmelagern auf den griechischen Inseln. Gehört es auch jetzt zur richtigen Reaktion in dieser Situation, dass wir das für den Moment jedenfalls akzeptieren und da die Augen zudrücken und verschließen?
Lechte: Ich habe selber vor Weihnachten einen größeren Betrag an eine Hilfsorganisation gespendet, um in den Lagern entsprechend Verbesserungen herbeizuführen. Aber es ist derzeit so, dass die Griechen offensichtlich einfach überfordert sind mit der Situation, dass in Lagern über 40.000 Menschen sitzen, die für 8.000 Leute ausgestattet sind. Das darf sich in Europa eigentlich im 21. Jahrhundert nicht zutragen. Die Hilfsgelder müssen auch umgesetzt werden. Es darf niemals der Vorwurf kommen, dass man extra die Situation in den Lagern so schlecht gestaltet, um keinen Push-Effekt herbeizuführen, sondern es muss dazu kommen, dass wir humanitär helfen, wo wir können. Und dass wir uns auch unserer moralischen Verpflichtung gegenüber Flüchtenden stellen, die ja nicht einfach ohne Grund ihr Heimatland verlassen haben, sondern Syrien haben über sechs Millionen Menschen verlassen, die vor einem Krieg geflüchtet sind und um ihr Leben fürchten.
Barenberg: Zum Schluss, Herr Lechte: Das bedeutet auch, humanitäre Kontingente für Flüchtlinge, wie sie beispielsweise den Grünen vorschweben, Gruppen, sagen wir, besonders Schutzbedürftige wie Kinder identifizieren und dann gezielt und als Kontingent nach Europa holen?
Lechte: Das muss der Europäische Rat in einer entsprechenden Quotenverteilung hinbekommen und Deutschland als größtes Land innerhalb der Europäischen Union hat da einen großen Anteil mit zu leisten. Wir können nicht weiter die Augen vor dieser misslichen Lage verschließen. Wir müssen uns endlich zu Lösungen mit unseren europäischen Partnern aufmachen. Und da liegt auch die Kanzlerin mir ganz besonders im Kopf. Diese ist in der Verantwortung.
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